Wir hatten es nicht leicht miteinander. Von Anfang an nicht.
Die Legende berichtet von der Stillverweigerung, dem Schreikind und einer unüberwindbaren Abneigung.
So ähnlich wird es wohl gewesen sein. In meiner Erinnerung jedenfalls haben die zärtlichen Momente immer etwas zu tun mit Alkohol oder der Farce eines Familien- oder sonstigem Besuches. Ein Schauspiel in dem ich ihr als freundliche Statistin assistierte, aus Furcht vor ihrem Zorn, beseelt von der Hoffnung mir ihre Zuneigung erarbeiten zu können.
Ich hasse dieses Kind
Wahrscheinlich wäre es auch für sie schöner gewesen, hätte sie mich bloß lieben können. Das aber war ihr nicht gegeben und mir, in der Folge, ebenso wenig. Traurig, für uns beide.
So viele Jahre in denen ich mich danach sehnte, mindestens so viele in denen ich vorgab darüber hinweg zu sein.
Gesehen habe ich sie zum letzten Mal vor 21 Jahren im Krankenhaus. So erinnere ich mich. Meine Schwester, damals im Kindbett, weiß nichts davon. Habe ich diese Begegnung nur erträumt?
Schmal war sie im Gesicht, beinahe schon hager, eine dunkle Sonnenbrille verbarg ihre Augen, die den meinen so ähnlich sind. Ihr Auftreten ganz die Diva, die sie immer war. Eine ausgestorbene Gattung.
Beinahe zwei Jahre hatten wir keinen Kontakt gehabt und trotzdem wechselten wir kein Wort miteinander an diesem Tag im September. Zu tief war die Kluft zwischen uns. Ihre Verwünschungen und Todesflüche. Der unkontrollierte und ungezügelte Hass.
Heute, am Vortag des Heiligen Abends, denke ich an sie. An Weihnachten, wie ich es als Kind erlebte: der schwierigste Tag im Jahr. Gefühlstumult zwischen Vorfreude und Angst. Die vorhersagbare, niemals ausbleibende Eskalation. Anspannung, Enttäuschung, Missgunst.
Der Vater, der vor dem Fest mit uns im Auto durch die Stadt fuhr um sie nicht bei den Vorbereitungen zu stören. Bei Einbruch der Dunkelheit zusammen durch den Stadtwald kariolen, bei Schnee und Eis. Jeder darf, auf seinem Schoß sitzend, ein Mal lenken. Er tritt das Gaspedal durch, lässt den Motor des alten Renault laut aufheulen, bremst ganz plötzlich ab und wir schlagen, mit schnellen Bewegungen auf spiegelglattem Untergrund das Lenkrad voll ein. Johlend schliddern wir über die gefrorenen Waldwege, Schneeflocken tanzen im Scheinwerferlicht.
Sie unterdessen, allein zuhause, immer hochtouriger laufend, schraubt sich Glas für Glas auf schwindelnde Umdrehungen. Ihr scheeler Blick bei unserer Rückkehr, und wir, noch ganz trunken und von hysterischer Ausgelassenheit, die sich überschnappend und fast schon rasend auf das unvermeidbare Inferno eintrommelt. Die beiden berauschten Welten, deren Spannungen sich während des bescheidenen, protestantischen Weihnachtsessens, ausgelöst durch einen winzigen Funken, ein falsches Wort oder ein kleines Missgeschick, ungebremst und krachend entladen. Ein loderndes Feuer, splitternde Kollision. Ertauben an hochkochendem Hass und tiefer Verachtung.
Das große Glockengeläut in meinen Ohren, auch damals schon.
Der Nussknacker. Sein hölzernes, starres Gesicht. Unsere beklommenen Wünsche, blicklos und bitter. Ein metallischer Geschmack im Mund.
Das bemüht vergnügte Auspacken der Gaben schließlich. Farbenfrohes Geschenkpapier bestaunen und sorgfältig zusammen legen. Zeit gewinnen, um sich, unter ihrem wachsamen Blick, den erwarteten Gesichtsausdruck zurecht zu legen und die gebotene Freude zu zeigen über die empfangenen Alltagsgegenstände – Ah, Socken, toll! – während sie sich, in dem, eigens für sie angefertigten, knöchellangen, weit schwingenden Mantel aus schwarzem Nerz – Achtzig Tiere, stell dir vor! – mit weinseligem Lächeln sonnt, eine Zigarette in der rechten Hand, die langsam herunter brennt.
(Bildquelle: PublicDomainReview.org, open images. A mezzotint écorché by Gautier D’agoty, published by Gautier in 1746 – Source: Wellcome Library, London. – See more at: http://publicdomainreview.org/collections/the-wellcome-librarys-top-10-open-images/#sthash.MlCJnwb4.dpuf)
schmerzhaft gut ge- und beschrieben.
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Vergangener Schmerz, zum Glück.
Danke.
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Heilige Scheiße. Sehr schmerzhaft.
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ja, das war es. Heute bin ich traurig darüber, was aus ihr geworden ist.
(Heilige Scheiße gefällt mir sehr gut!)
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Kann frau solche Erinnerungen je im Leben vergessen oder doch nur verdrängen, weil es nicht zu vergessen ist.
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Es sind diese bestimmten Tage im Jahr, an denen die Erinnerung so präsent ist, aber leiden tue ich nicht mehr, oder wenn, dann mit ihr mit. Sie ist psychisch krank und hat nur wenig Glück und Liebe erfahren.
Ich wäre nicht die, die ich bin, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Der Schmerz und die Trauer über die missglückte Mutter-Beziehung haben meinem Leben Tiefe und einen melancholischen Grundton gegeben. Es war nicht gut, so, wie es war, aber es hat mich nicht zerstört sondern stark gemacht.
Und dann gab es da noch den Vater, die Geschwister und die Großeltern, von denen ich mich geliebt wusste.
Das Beste, was meine Mutter mir tun konnte, und das hat sie ganz richtig gemacht, war, mich in Ganztagseinrichtungen unterzubringen und so die Zeit, die wir gemeinsam verbringen mussten deutlich zusammen zu schrumpfen. Dafür bin ich ihr tatsächlich dankbar.
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Ganz vielen Dank für diesen ausführlichen und so offenen Kommentar. – Offensichtlich hast du recht. Vielleicht stimmt das Sprichwort „Was uns nicht umbringt, macht uns hart“, ich möchte es aber ändern in „… macht uns stark“.
Meine Beziehung zu meiner Mutter stimmte ja auch nicht, aber eben ganz anders, ohne irgendeine Form von (psychischer) Gewalt. Und jetzt ist sie seit ca. 1,5 Jahren tot.
Leider hatte ich weder Geschwister noch lange Zeit Großeltern – erst mit 9 Jahren kam meine Oma aus Oberschlesien als Aussiedlerin in die DDR zu uns. – Aber auch das war nicht das, was ich gebraucht hätte und gesucht habe.
Also dann – drei ruhige Tage wünsche ich dir mit allem, wie du es dir vorstellst.
Liebe Grüße von mir
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Viel mehr kindliche Ängste gehen nicht. Eine Geisterbahn ist das. Wenigstens hat der Vater noch Gefühle, und Sie auch. Eigentlich erstaunlich, dass Sie zum Trotz welche behalten haben und auch noch hoch achten. Respekt.
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Danke, Frau Crocodylus.
Meine Mutter war krank. Das nimmt mir jedes schlechte Gefühl gegen sie. Sie war selbst gestraft genug.(Grässliche Redewendung)
Wie ich in der Antwort an Clara weiter oben schrieb, gab es ja noch die anderen Menschen in meinem Leben, die mich liebten, und zum Glück war nur ein Mal im Jahr Weihnachten. Viel Zeit verbrachte ich in der Schule, oder ich trieb mich draußen herum. Zuhause schloss ich mich oft in mein Zimmer ein, setzte mich unter den Tisch und löste Rechenaufgaben. Das machte den Kopf klar.
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@“…und löste Rechenaufgaben. Das machte den Kopf klar.“
Genau!
Liebe Tikerscherk, ich wünsche Ihnen (für die Gegenwart) sehr schöne Weihnachtstage!
Herzlich
S.
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Das wünsche ich Ihnen auch, unbedingt!
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Hass ist manchmal eine angemessene Reaktion. Auch für Kinder.
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@ Kiezneurotiker
Vielleicht ist er das.
Hass ist aber auch ein schreckliches Gift, dss denjenigen, in dem es wütet bis ins Mark vergiftet und krank macht.
Als Kind hatte ich Angst vor ihr und habe sie gleichzeitig geliebt. Später gab es Jahre, in denen ich sie wirklich hasste. Das war schlimm. Schließlich ebbte dieses Gefühl ab, wurde zu Wut, Verzweiflung und Trauer.
Inzwischen ist da nur noch dieser Schmerz über unsere Vergegnung und ihr trauriges Leben.
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es gibt menschen, die sind einfach nicht fähig zu lieben.
als kind versteht man das natürlich überhaupt nicht.
drama-queens, narzissten und suchtler im eigenen haus……ein alptraum.
dies erstmal zu erkennen, aufzuarbeiten und dann nicht die selben muster weiterzugeben – das ist und war mein weg!
ich glaube, viele von uns haben zu wenig liebe erfahren.
wie sagte fromm:
lieben ist eine kunst!
man kann sie erlernen und weitergeben!
das gibt mir immer wieder hoffnung!
besinnliche w-nachten
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@Tilly
Nein, als Kind versteht man das nicht und lieben ist, in der Tat, eine Kunst, bzw eine Entscheidung und eine Fertigkeit, die man versuchen kann zu erlernen. Das wird nicht jedem gelingen, und gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie meine Mutter sie hat, haben es da sehr schwer und leiden unter diesem Unvermögen, das sie einsam macht.
Hoffnung ist ein schönes Stichwort.
Dir auch fröhliche Weihnachtstage!
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Wir wünschen Dir im Heute schöne Feiertage, die Du selbst so gestalten kannst, wie Du magst, mit mindestens einem netten Menschen an Deiner Seite. Und wir wünschen Dir, dass die alten Geister sich vom Acker machen und der Schmerz weniger und ruhiger werden kann. Viele freundliche Grüße!
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Das Gleiche wünsche ich Euch! Herzlichen Dank!
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Über den Schmerz hinaus ist immer auch Dein Mitgefühl spürbar, das zeichnet Dich und Deine Zeilen aus und macht sie so besonders. Und darin liegt vielleicht die eigentliche Bedeutung von „Darüber-hinweg-weg“ sein… – In diesem Sinne wünsche ich Dir jetzt schöne Feiertage, liebe Tikerscherk; lass es Dir gut gehen!
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PS: Eine Frage hab ich noch: Von wem ist dieses tolle Bild?
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Das Bild ist von Jacques Fabien Gautier d’Agoty (1710 – 1781)
Titel: L’Ange anatomique ou femme de dos disséquée de la nuque au sacrum. Pl. XIV (from la Myologie complette)
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Danke, liebe Pagophila.
Auch ich wünsche Dir schöne Feiertage. Auf bald!
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PS: Eine Frage hab ich noch: Von wem ist dieses tolle Bild?
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Das Bild der Engel passt gut zur vergangenen Geschichte. Es kann nun wieder aufwärts gehen. Schöne Zeit zwischen den Jahren wünscht Dir der schwarze Vogel!
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Das wünsche ich Dir auch, Tom.
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Eine Schreckensgeschichte. Ich bin froh, dass du den Hass bereits abgeworfen hast. Dass Trauer bleibt, glaube ich gerne. Ob sie jemals ganz gehen wird …
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Da bin ich auch froh. Hass ist Nervengift.
Die Trauer wird nie vergehen. Wenn man es schafft sie in Blues zu verwandeln ist schon viel gewonnen.
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