Auf dem Rücken eines Tigers

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Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.

Friedrich Wilhelm Nietzsche,
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

9 Kommentare zu “Auf dem Rücken eines Tigers

  1. tikerscherk, warum dieser Text? Wenn man dem eine Bedeutung entnehmen kann, dann die, dass es nicht gut ist, sich einlullen zu lassen.

    Das ist ein Allgemeinplatz und der Einzige, wo ich diesem Text in seiner Absolutheit zustimmen kann. Nietzsche war noch nie mein Fall. Vielleicht lese ich ihn deshalb immer wieder? Komischerweise sollte ich das, wenn ich Nietsche folgte, an seinen Ansprüchen gemessen, nicht tun…

    Aber das Bild des Tigers ist beeindruckend, absolut hinreichend, sich nicht gleichsam auf seinem Rücken den Träumen hinzugeben. Er könnte einen sonst fressen.

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    • @ Joachim

      da muss ich mal zurück fragen: wieso nicht dieser Text?
      Und wieso genau liest Du Nietzsche immer wieder? Um ihn irgendwann zu mögen? Oder weil er soviel Fragen aufwirft?

      Wann immer Netzsche in meinem Blog auftaucht ist das Hinweis auf den aktuellen „Stand“ des Denkprozesses, der vor einigen Monaten seinen Anfang nahm und der gleichsam nur im Windschatten eines anderen Denkenden stattfindet.
      Nietzsche zu zitieren ist Teil meiner Verbundenheit mit diesem sehr besonderen und für mich wertvollen Menschen, und den Gedanken, die gefördert durch oder ausgelöst von diese/r Begegnung entstehen.

      Know what I mean?

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      • „Know what I mean?“: Jep, schätze schon.

        „wieso nicht“: weil der Text schon in sich widersprüchlich ist obwohl er eine (oder einige) universelle Wahrheit beinhaltet. Siehe den letzten Satz in dem Text.

        „Und wieso genau liest Du Nietzsche immer wieder“: Gute Frage. Vielleicht weil er „verrückt“ war? Weil er einen überirdischen Absolutheitsanspruch stellte, keine Grenzen akzeptierte, konsequent inkonsequent war? Weil ich mich so schön über seine Überheblichkeit aufregen kann? Weil er trotzdem so oft Recht hat? Weil er Wissenschaft in Frage stellte, wenn sie „Mist“ verzapfte?

        Kurz: ein Genie, das zudem noch schreiben konnte.

        Ich betrate Nietzsche als eine Art „Gegner“. Ohne die Gegner wäre ich endlos in meiner Blase gefangen. Genau betrachtet versteckt sich darin möglicherweise die Begründung für meine Einschätzung, der Text sei widersprüchlich.

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  2. weil er ein guter Prellbock ist, der nixsche Nietzsche und darum gut für eigene Stoffsammlungen, dh. falls man innerhalb dieser die Buchstaben noch als einzeln und sortierbar erkennen kann,,, bei der Fülle von auf uns einprasselnden gebuchten Stäben…..

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  3. Nietzsche ist in der Tat für vieles gut. Und bei der Fülle dessen, was er geschrieben hat, wird sich noch zu den meisten Sachverhalten ein passendes Zitat finden.
    Seit einigen Monaten begleitet er mein Leben auf eine ganz besondere Weise, die ihn mir, bei aller fragmentarischer Kenntnis seines Werkes, nahe gebracht hat.

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    • tikerscherk, das verstehe ich nicht. Nietzsche ist zwar genial gewesen, doch was muss das für ein Leben sein, dass einem Nietzsche nahe bringt? Der Mann war widersprüchlich, seine Freundschaft war nicht nur einmal ein seltsames Ding. Wohlgemerkt für seine Freunde.

      Erst absolut dafür und dann absolut dagegen, unabhängig davon, ob es sich um Personen oder Anschauungen handelte. Erst Pessimist, dann das Gegenteil. Nietzsche stellte seine Sicht gottgleich (Ecce homo) dar, wähnte Leser unwissend. Nietzsche wollte den Übermenschen, rein wie eine Dampfmaschine und wusste genau, auf welchem Drahtseil („Also sprach Zarathustra“) er sich da bewegte. Er wollte einen Golem, unfähig zu dem, was menschlich ist, ein Golem, der als Guru daher kommt. Gott war tot und aus diesem Dilemma sollte nur sein Geist, das furchtbar perfekte Gespenst, dass er an die Wand malte, helfen. Ich interpretiere das als Verwechselung von Technikglauben mit Abstraktion.

      Nietzsche hatte in vielem Recht, ohne Zweifel und es ist eine grobe Unterschlagung, die ich hier „leiste“. Alleine die Wissenschafts- oder Glaubenskritik, alleine, dass er infrage stellt. Seine Kunst sowieso. Seine Sicht z.B. zum Mitleid unterschreibe ich oft. Doch Antworten liefert er nicht. Nietzsches Antwort war die Suche.

      In diesem Punkt ist er sehr aktuell. Das was bei der Suche jedoch das Wesentliche ist, das hat er verpasst. Er wollte die Abkürzung mit aller Gewalt.

      Moral ist etwas, das mir vollkommen fremd ist. Immer wieder richtige Thesen und dann dieser „Wille zur Macht“. Über was? Über wen? Warum? Seine Schlüsse sind seine Begründung. Zirkelschlüsse, all zu oft. Aber:

      „Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt“.

      Er wusste genau, was er sagte.

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