Unsterblich

330px-File-Elisium_by_Leon_Bakst_2Nach einem kurzen Streit hat sie zwei Koffer gepackt, ein Taxi zum Bahnhof genommen und ist mit dem nächsten Zug zu ihren Eltern in die Schweiz gereist. Nichts Ungewöhnliches.
Mein Vater allerdings hat nicht versucht sie von ihrem Plan abzubringen und am Abend hat er nicht kleinlaut angerufen, um sich für Dinge zu entschuldigen, die er nicht getan oder gesagt hat.
Eine Art innerer Frühling scheint ihn mitten im Herbst überkommen zu haben, und als er beim Durchgehen der täglichen Post feststellt, dass die Versicherung inzwischen bezahlt hat, bucht er kurzerhand 4 Flüge und setzt sich am nächsten Morgen mit uns in eine Lufthansa-Maschine nach Paris. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich die Welt von oben und fühle mich wie eine inkognito reisende Millionärstochter. Dass die leuchtend weissen Wolkenberge keine federleichten Kissen, sondern ein besonderer Aggregatzustand des Wassers sein sollen, kann ich bis heute nicht glauben.
In Paris angekommen, fahren wir zu unserem Hotel in der der Avenue des Champs-Élysées, dieser prächtigen Straße aus Licht und Geschichte.
Das Hotel ist modern und luxuriös und ich bin aufgeregt und zugleich verlegen, als ich mit meinen Geschwistern die große, glänzende Eingangshalle durchquere und die Blicke der Umstehenden auf mir spüre. Ich bin 12 Jahre alt und bald werde ich eine Frau sein.
Mein Zimmer ist groß, das Bett mit einem edlen, cremefarbenen Damastüberwurf bedeckt, der Teppich hochflorig und der Blick nach draußen überwältigend. Drei Stockwerke weiter unten liegt die große Avenue der elysischen Felder.

Elysion, die Insel der Unsterblichen im ewigen Frühling.

Ich öffne das Fenster. Draußen tost der Verkehr, in der Ferne sehe ich den großen Triumphbogen. Ich atme tief ein. Eine Vorahnung auf mein zukünftiges Leben weht mich verheißungsvoll an und ich fühle ein unbeschreibliches Glück, einen Aufbruch, der sich ohne mein Dazutun vollzieht, ein So-soll-es-sein, das sich in diesem Augenblick zeigt und gleichzeitig in Gang setzt. Der Blick in ein Leben, an dem ich mich berauschen werde, weil es endlich mir gehören wird.

 

Als ich 6 Jahre alt war, saßen wir an einem Sonntagnachmittag im Sommer in der Frankfurter Innenstadt in einem jugoslawischen Lokal. Ich aß Ćevapčići mit Đuveč-Reis. Meine Eltern unterhielten sich über das Herabsetzen des Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 viele Jahre zuvor und diskutierten, ob man in diesem jungen Alter bereits die Reife habe, politische Entscheidungen zu treffen, also wählen gehen zu dürfen. Ich saß da und spielte mit meinem Essen herum, die Würstchen waren Einbäume, der rotgefärbte Reis ein blutiges Meer voll sterbender Wale, während ich in meinem Kopf eine Rechnung aufmachte, deren Ergebnis in einen lauten Jubelschrei mündete, der die beiden augenblicklich verstummen ließ. Mir war soeben eine unglaubliche und freudige Erkenntnis gekommen: mit der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters hatte man mir die Hälfte meines bisherigen Lebens geschenkt, und wenn ich noch einmal die doppelte Zeit, also 12 Jahre durchhielt, dann war ich frei. Ich hatte 3 kostbare Jahre gewonnen, in denen ich endlich selbst würde bestimmen können, was ich tun oder lassen wollte. Ich würde mir ein großes Haus kaufen, Tierärztin werden und gläserweise Nutella löffeln. Außerdem hätte ich in dem Alter bereits Kraft genug, um alten Menschen zu helfen. Seit einiger Zeit nämlich ging ich an manchen Nachmittagen auf den nahegelegenen Friedhof und beobachtete, wie sie sich mit langgezogenen Armen abschleppten und ihre ohnehin müden Beine leicht ins Straucheln gerieten, wenn sie die großen, grünen Gießkannen zu den Gräbern ihrer Verstorbenen trugen. Dort schippten, pflanzten und wässerten sie, zupften hier und da mit gebeugtem Rücken ein wenig Unkraut oder welke Blüten, die sie später auf den großen Komposthaufen neben der Wasserstelle warfen, der so modrig und erdig duftete, dass ich mich am liebsten hinein gelegt hätte. Stattdessen wühlte ich darin herum und pflückte jede nur halbwegs intakte Blüte heraus, um sie auf vermooste, ungeschmückte Gräber zu legen.
Alte Menschen starben. Das war traurig und deswegen musste man ihnen helfen.

 

Die kommenden Tage verbringen wir im warmen Herbstlicht, bummelnd und schlendernd. An der Seine, unter den Platanen, bei den Bouquinisten, den Boule-Spielern, den Kunstmalern auf dem Mont Martre und in den altehrwürdigen Restaurants der Stadt, in denen mein Vater mehrgängige Menues genießt, während wir Kinder mit Pommes und Eis zufrieden sind.
So könnte es immer sein, und das war erst der Anfang.

 

Sechs Jahre später, mit 18, werde ich an der Küste Eric, den jungen Bretonen kennenlernen, als er am Strand beignets aux pommes verkauft. Sein schönes Gesicht erinnert an den blonden Fotografen von Blow up, seine Augen sind berückend blau wie die von Capotes Tico Feo.
Stripes of sky
Von Zeit zu Zeit werden wir uns treffen. Unsere Intimität wird in diesem heissen August ihren Höhepunkt an einem Abend erreichen, an dem wir bekifft in irgendeiner Wohnung beieinander sitzen, während er beim Gläserrücken Adolf Hitler anzurufen versucht. Trotz unseres Zustandes werden wir nicht imstande sein die Illusion einer Begegnung mit ihm herbei zu zaubern. Stattdessen werden sich unsere Oberschenkel berühren, und von Zeit zu Zeit wird er mir einen tiefen Blick aus seinen betörenden Augen zuwerfen, der mir wie ein Versprechen erscheinen wird. Bei Tagesanbruch dann werden wir Hand in Hand zum Bäcker schlendern, und uns gemeinsam über eine ganze Tüte petits pains au chocolat hermachen.
Nach den Ferien werden wir uns Briefe schreiben und uns sagen wie sehr wir uns vermissen.
Als wir uns drei Monate später in Paris treffen werde ich bereits magersüchtig sein.
Genau eine Nacht werden wir in einer billigen Absteige miteinander verbringen.
Danach werde ich ihn nie wieder sehen.

 

Musik zum Text:

 

(Photo credit Wikipedia, Elysion)

18 Kommentare zu “Unsterblich

  1. Hallo, Tikerscherk, die ‚Avenue des Champs-Élysées‘, ist sehr beeindruckend, ganz egal wie alt man ist. Dies mit zwölf Jahren zu erleben, ist eine tolle Sache. Die Wolken als Kissen anzusehen, kann ich verstehen. Ich musste bis 21 warten, um volljährig zu sein. Meine Eltern lebten auch vielfach in Streit.
    In bestimmten Zeitabschnitten erinnern wir uns an bestimmte Einzelheiten in unserem Leben. Das ist, was ich auch gern tue, über Erinnerungen zu schreiben, die aus irgend einem Grunde sehr lebendig geblieben sind. Ich schreibe allerdings meistens in Englisch, da ich in Australien lebe und die meisten in meiner Familie hauptsächlich Englisch sprechen.
    Danke vielmals für diesen Blog! Hat mich sehr interessiert.
    „Aunty“ Uta :-)

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    • Hallo auntyuta, danke für Deinen freundlichen Kommentar. Ich war beschäftigt und antworte deswegen erst so spät.
      Das Erinnern an Begebenheiten aus meinem Leben, bringt mich mir selbst sehr viel näher. Dass ich es in meinem Blog teilen kann, macht die Arbeit des Aufschreibens so lohnend. Vor allem, wenn ich so nettes Feedback bekomme.
      Schöne Grüße nach Australien!

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  2. Solche Momente der Vorahnung kenne ich, hatte ich selber auch später, nachdem das Leben mit seinen Tiefen mich längst eingeholt hatte, noch manchmal. Ein rauschhaftes Gefühl der Sicherheit, dass alles so werden würden, wie es in meinen kühnsten Träumen immer war. In letzter Zeit hat es sich zwar rar gemacht, aber die Hoffnung, es könnte mir plötzlich irgendwann doch wieder auflauern, flackerte gerade beim Lesen Deines einmal mehr wundervollen Erinnerungsgespinstes wie eine Aurora an meinem Inneren Himmel auf..:-)

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    • Ja, ein rauschhaftes Gefühl der Sicherheit. Das hast Du sehr schön gesagt.
      Ich habe gerade erst erlebt, dass es auch nach den tiefen Abgründen, durch die das Leben uns manchmal führt, wieder aufflackern und sich zu eine kleinen warmen Flamme entwickeln kann.
      Ich danke Dir sehr herzlich für Dein wunderbares Kompliment!
      Eine Aurora am inneren Himmel… ach…

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    • Ja, findest Du? Was macht ihn so schön für Dich?
      Ist er nicht ein wenig traurig (kein Widerspruch, ich weiß)?
      Ich selbst mochte auch, wie er so beim Schreiben entstand und etwas ganz anderes wurde als ich im Sinn hatte.
      Ich wollte über meine Mutter schreiben. Ihre Rückkehr, und wie sie dann entdeckte, dass wir verreist waren, statt Trübsal zu blasen. Und dann war ich auf einmal wieder in Paris…
      Mein Erinnern ist zu Beginn dem Deinen ähnlich (über das Du in Deinem sehr schönen aktuellen Beitrag schreibst). Es sind meist nur Fragmente, Bilder die aufblitzen. Erst beim Schreiben oder beim Darüber-reden kommen die dazu gehörigen Episoden zurück, die ich so noch einmal durchleben kann.

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      • Ich kann nur von meinem Gefühl sprechen, aber mir scheint, er wurde in einer anderen Stimmung verfasst als die anderen Texte aus dieser Reihe, der Mutter-Familien-Reihe. Er ist sanfter, außerdem ist kein Satz fehl am Platz, alles ist stimmig und lebendig und mit einer gewissen Ruhe geschrieben. Und dieses junge Mädchen, das eine Vorahnung hat, das ist sehr schön beschrieben. Im Kleinen. Ebenso wie der Vater, der liebevoll beschrieben ist und sich selbst und seinen Kindern etwas gönnt, einen Ausbruch aus dieser Borderlinehölle, eine kleine Verrücktheit, um bei sich selbst zu bleiben. Das Ende ist traurig, ja. Und es zeigt, dass es eben kein so leichtes Entkommen gibt. Aber aus literarischer Sicht macht das den Text sehr reich, weil er ihn um einige Ebenen bereichert.
        Ich denke, alle Erinnerung ist fragmentarisch… was ich beschreibe, ist gar nicht so außergewöhnlich. Aber bei mir wird selten (nie) eine Geschichte wie bei dir draus. Mein Genre ist das Fragment. Und so ergänzen wir uns alle. ;-)

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        • Danke, Asal! Damit kann ich etwas anfangen, und Du hast Recht. Der Text wurde tatsächlich in einer ganz anderen Stimmung, eben in dem Gefühl (zurückgelehnter) Ruhe, die Du vermutetest geschrieben.
          Auch was Deine Idee von Erinnerung anbelangt, stimme ich mit Dir überein. Sie ist in der Regel fragmentarisch und wird erst episodisch, wenn wir uns hinein begeben.
          Was ich am Fragmentarischen so schätze ist der große Spielraum für die Imagination, die es lässt. Da ist sehr viel mehr Freiheit und zugleich auch mehr Geheimnisvolles, als bei einer durcherzählten Geschichte. Darum, unter anderem, lese ich so gerne bei Dir. Und so ergänzen wir uns alle ;)

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  3. Es tut gut, wenn eine in diesem unendlichen virtuellen Universum ihr ureigenes Menschsein offenbart, da durchzieht mich so eine Ahnung von Zusammengehören über alle Grenzen hinweg…hab Dank!

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    • Das rührt mich an, was Du da schreibst. Dieses Zusammengehören durch universelle Erfahrungen, die man macht.
      Danke für Deinen Kommentar- ich freue mich, dass mein Menschsein durchschimmert und Du es sehen kannst.

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  4. Aus irgendeinem Grund habe ich diesen Artikel von dir verpasst. Ich möchte jetzt nichts wiederholen, was schon kommentiert wurde.
    Mir fiel folgender Satz auf: „Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich die Welt von oben und fühle mich wie eine inkognito reisende Millionärstochter.“ Heutzutage werden die Kinder ja schon im Babyalter in den Auslandsurlaub „entführt“, fliegen ist für sie meist eine Selbstverständlichkeit, es sei denn, das Ausland wird per Auto „erobert“. – Bei mir hat es noch sehr viel länger gedauert, bis ich das erste Mal richtig geflogen bin (den Hubschrauberrundflug über Görlitz zähle ich nicht) – aber zum ersten Mal bin ich erst mit 25 geflogen. – Haben wir etwas verpasst gegenüber der heutigen Generation? – Ich denke nein.

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    • Nein, ich glaube wir haben nichts verpasst. Weiter weg heisst ja nicht zwangsläufig besser.
      Mit einem Hubschrauber allerdings wäre ich auch gerne mal geflogen. Das stelle ich mir sehr aufregend vor.

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      • Ich war damals so ca. 12. Bei den Passagieren war auch mein HNO-Arzt dabei – der hat mich dann „betreut“. Als ich ausstieg, sagte meine Mutter, dass ich ganz grün aussähe im Gesicht.
        Eben so ging es mir, als ich zum ersten Mal auf dem Hamburger Dom so eine riesige Überschlagschaukel betrat – nie, nie, nie, nie mehr wieder mache ich den gleichen Fehler.

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