Erlösung

English: poppy Deutsch: Mohn

„Du tratst aus meinem Traume,
Aus deinem trat ich hervor,
Wir sterben, wenn sich eines
Im andern ganz verlor.“

Ich verlasse die öde Party im Tränenpalast.
Im Kofferraum des Wagens liegt das hölzerne Schaukelpferd für das Patenkind.
Als ich durch das Brandenburger Tor fahre hält mich die Polizei an.

Um zwei Uhr kehre ich in meine Wohnung zurück.
Ich bin noch immer hellwach und irgendwie euphorisch. Nachdem ich mir meine Bücher geholt und eine Zigarette angezündet habe, setze ich mich an den Rechner und gehe ins Forum. Ich will kurz schauen ob er geantwortet hat und dann noch ein bisschen arbeiten.
Das Modem knattert beim Einwählen laut, langsam baut sich die Seite auf.
Ich öffne den Bereich mit den laufenden Diskussionen.
Plötzlich geht ein Fenster auf, darin sein Name.
Are you online?“
Ich wusste nicht einmal, dass es hier eine Chatfunktion gibt.
Yes.“
Pause. Er schreibt.
Wo bist du?“
Ich zögere einen Moment, ob ich Berlin oder überhaupt nur Deutschland schreiben soll.
Germs, sind nicht bei allen willkommen.
Berlin, Germany.“ antworte ich schließlich.
Die Hauptstadt aller Totalitarismen!“ kommt als Antwort. Kurz darauf schon die Entschuldigung. „Sorry, kidding.“
Ich frage ihn, ob er mein letztes Posting gelesen hat. Ja, das hat er. Er wollte gerade etwas schreiben.

*
Seit einigen Wochen geht das so. Tag für Tag.
Entdeckt habe ich seine Beiträge in der Rubrik Judaism, wo sie überhaupt nicht hinpassen.
Unter dem Titel „The Curved Universe“  hat er eine Reihe von Zitaten und selbst verfassten Texten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, in einen losen Zusammenhang gestellt. Die Auswahl, die er dabei getroffen, und die Verknüpfungen, die er hergestellt hat, gefallen mir gut. So gut, dass ich schließlich alles lese, was er schreibt, und mir irgendwann ein Herz fasse und auf einen seiner Einträge mit einem passenden Zitat antworte.
Seitdem werfen wir uns den Ball hin und her. Eine Unterhaltung in Aphorismen und Versen.
Ich bin erstaunt, als er mich jetzt fragt, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Ich dachte wir hätten geflirtet.
Ich bin eine Frau.“
Jüdisch?“
Nein.“
Wie alt?“
Und selbst?“
Wir stellen fest, dass er nur 10 Tage älter ist als ich.
Das Gespräch entwickelt sich sehr schnell.
Er fragt mich, was ich in dem Forum mache, und ich erzähle ihm von meiner geplanten Diplomarbeit über Täterinnen im NS, er mir von der Flucht seiner Familie aus Österreich und Polen nach Lateinamerika. Wir unterhalten uns über die Thesen Goldhagens. Über die Politik Israels. Über die orthodoxen Juden und ihr Frauenbild.
Nein, er glaubt so wenig an Gott wie ich.
Noch später scherzen wir miteinander, erzählen uns von unserem Leben, den Freunden, der Familie. Der Musik und der Literatur Lateinamerikas und Europas.
Den Katzen. Er hat drei, ich zwei.
Um fünf Uhr morgens fragt er mich schließlich, ob er mich anrufen darf. Ich bin müde, und eigentlich muss ich ins Bett. Aber, ja, wir können kurz reden. Als das Telefon läutet springt mein Herz.
Seine Stimme gefällt mir auf Anhieb. Sie ist weich und männlich zugleich. Auch sein Lachen mag ich.
Wir sprechen drei Stunden lang, mir einer Vertrautheit und Selbstverständlichkeit, die mich überrascht und regelrecht elektrisiert. Dann verabschieden wir uns. Ich muss schlafen.
Ich erwache mit 5 Katzen im Bett.

*
Am nächsten Tag schon schreiben wir uns Emails. Es sind die Worte Verliebter, die zum Gipfel stürmen und dabei alle Stufen auf einmal nehmen. Ein Rausch.
Die nächsten Wochen bestehen nur aus Mails und Telefonaten. Aus Vermissen und Fantasien.
Er ist ein Poet, und die Worte, die er für seine Gefühle findet, treffen mich wie Giftpfeile.
Ich bin betäubt. Wehrlos. Und es gefällt mir.
So etwas habe ich noch nicht erlebt.
Nicht mit dieser Intensität, nicht in diesem Gleichklang, und nicht in diesem Tempo.
Er tanzt meinen Tanz, und wir verschmelzen dabei.
Schon nach wenigen Tagen bittet er mich ihm treu zu bleiben, als ich abends einen Freund treffe.
Ich verspreche es ihm.
Bald darauf sagt er mir, dass er mich liebt.
Der Wind weht seinen Duft zu mir. Ich kann ihn fühlen. Er ist ein Teil von mir.
Alle Gesetze und alle Regeln sind ausser Kraft gesetzt. Raum und Zeit lösen sich auf.
Er fliesst durch meine Adern.
Volle Fahrt.
Ich sehe den Strudel, aber ich kann nicht mehr aussteigen.

*
Du wirst nie wieder allein sein, sagt er an einem Abend zu mir, und mit diesem Satz bricht der letzte Damm.
Der Wall, der das Innerste schützt.
Ich fließe, ich löse mich auf. Ich gehöre ihm. Ich bin er.
Hingebung ist das einzige Ziel.
Verschmelzung. Symbiose.
Erlösung.
Eins sein.
Wie habe ich nur all diese Jahre ohne ihn verbracht?

Von I. trenne ich mich am Telefon. Er weint.
*
Der Flug nach Barcelona ist die Reise in ein neues Leben.

Teil I hier und Teil II hier

20 Kommentare zu “Erlösung

    • Dein Einfühlungsvermögen zeigt sich nicht nur in deiner Imaginationskraft, sondern auch der Auswahl ausgerechnet dieses Gedichtes, liebe Pagophila.
      Es hat eine große Bedeutung für mich, und zwar genau im Zusammenhang mit dieser Geschichte.

      Corona

      Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
      Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
      die Zeit kehrt zurück in die Schale.

      Im Spiegel ist Sonntag,
      im Traum wird geschlafen,
      der Mund redet wahr.

      Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
      wir sehen uns an,
      wir sagen uns Dunkles,
      wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
      wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
      wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

      Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
      es ist Zeit, daß man weiß!
      Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
      daß der Unrast ein Herz schlägt.
      Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

      Es ist Zeit.

      Like

        • Für mich war es damals nicht so. ich fühlte mich im Himmel.
          Alerdings weiss ich auch, dass ich den Abgrund von Anfang an gesehen hatte.
          Über dieses Gedicht haben er und ich uns an einem Abend lange unterhalten.

          Like

  1. Oh je, wie soll ich das denn kritisieren? Wenn ich es nicht tu, meinst Du noch, das würde mich nicht interessieren.

    Also wenigstens dies, ohne jede Empathie: Nach dem ersten, etwas „belanglosem“ Abschnitt drehst Du immer mehr auf. Es ist sehr klug, das Pulver passend zu verschießen. Das Tempo und die Dichte entspricht dem Inhalt. Die Metaphern nehmen zu, so wie das Gefühl zunimmt. Und der Text klärt gerade genug, um weiter neugierig zu sein, aber wenig genug, um eigene Gedanken zu haben, sich einfach hineinzuversetzen. Dazu läßt er genügend Raum.

    Eigentlich müsste man, um wenigstens etwas zu verstehen, den Text einmal vorwärts, dann noch einmal rückwärts lesen. Das passt sehr gut zum schon wieder erwähntem „Curved Universe“.


    Aber freu‘ Dich nicht zu früh. Das war kein Lob (wie gesagt, keine Emphatie, keine Wertung). Das ist die nur Basis für begründete Kritik – zunächst einmal verstehen, was da wie überhaupt steht und was es macht. Jedoch – und das ist kein Widerspruch: Irgendwo schrieb ich (so ungefähr), man muss lieben, was man kritisiert.

    Ich arbeite daran ;-) und hoffe sehr auf mehr.

    So im Nachhinein doch ein wenig Empathie und die Befürchtung, Dich zu bequatschen: Man (also ich) erwartet förmlich konkrete Begebenheiten, irgend etwas, das im gekrümmten Raum eine Wirklichkeit wiedergibt, einfach erzählt. Also nicht nur, nur weiter so. Aber auch. Ups.

    Like

  2. Das ist nun ohne Zweifel ein Beginn, was meine Frage zum gekrümmten Universum beantwortet. Und noch interessanter ist er dadurch, dass er zugleich ein Ende ist. (Die Dimension des Anfangs, die in der Geschichte liegt und die Sie nur andeuten, lasse ich mal beiseite).
    Denn wie lässt sich der Fortgang der Geschichte anders verstehen, denn als neuer Beginn ohne Neubeginn? Die Euphorie, die Sie hier beschreiben, die Erlösung, die Symbiose, die Reise in ein neues Leben, von all dem lässt sich auf dem Flughafen in Barcelona und schon gar in der Wohnung dort nichts mehr sehen. Unsicherheit bis hin zur Bedrohung schaffen dann den neuen Horizont der Situation.
    So ist dies Kapitel aus dem Buch Ihres Lebens anscheinend durch starke Diskontinuität bis hin zum gelebten Widerspruch gekennzeichnet. Der Maßlosigkeit der Erlösungshoffnung folgt fast unmittelbar die Angst vor Mord oder Einkerkerung. Beide hervorgerufen oder vermutet in ein und demselben Gegenüber.

    Wobei: Die Einzigartigkeit jeder Situation für sich durchzieht ja alle Ihre Erzählungen und prägt dadurch ja auch stark Ihren Stil. Dies hier aber ist sehr extrem und obwohl Sie die Feststellung, dass Ihr Leben nun in ruhigeren Bahnen verläuft, durchgestrichen haben, hoffe ich doch, dass zumindest diese emotionale Radikalität Ihnen heute erspart bleibt. Es muss deswegen ja nicht langweilig werden.
    Einen angenehm anregenden Abend wünsche ich.

    Like

    • Werter Sachverständiger,

      ich war mir sicher, dass Ihnen Erlösung die Antwort auf Ihre Fragen geben würde.
      Die Maßlosigkeit der Erlösungshoffnung und die plötzliche Angst vor dem selbst erkorenen Erlöser erscheinen als Widerspruch, sind es aber aus meiner Sicht nicht.
      In beiden Fällen gebe (oder glaube) ich mein Leben in seiner Hand.
      Beide Gefühle kommen unvermittelt, quasi aus heiterem Himmel, und die eigentliche Gefahr wird mir dabei überhaupt nicht klar, bzw. ignoriere ich sie.

      Dies alles ist ein Rückblick auf eine Zeit, in der „j´adore ce qui me brûle“ ein Satz war, den ich gut verstehen konnte.
      Ich hatte offenischtlich etwas zu lernen.

      Mein Leben verläuft zwar noch immer nicht in ruhigen Bahnen, ganz im Gegenteil, es handelt sich aber heute um eine schmerzfreie, gemäßigte Spielart der großen Themen, die alles andere als langweilig ist, aber den Sattel auf dem ich sitze nicht gefährlich verrutschen lässt.

      Ihnen einen angenehmen Tag.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..