Vorahnung

Zisterne - Istanbul von unten

Zisterne – Istanbul von unten (Photo credit: marfis75)

Den ganzen Tag schon trug ich eine Vorahnung mit mir herum.
Keine der unbestimmten Sorte, wie mein Vater sie manchmal hatte, wenn er nicht wollte, dass ich zur Schule ging, weil etwas Furchtbares geschehen könne.
Viel konkreter war dieses Gefühl, denn mein Herz schickte schon seit Stunden falsche Impulse und ich wartete nur darauf, dass es von 70 auf 300 bpm umschlagen und ich mich im Möbelhaus Vivantes wieder finden würde.
Ich kenne das inzwischen, es macht mir keine Angst mehr, aber es beeinflusst meine Tagesplanung und natürlich beunruhigt es mich.

Statt in den Tiergarten zu gehen, entschied ich mich für die Hasenheide, weil sowohl der Hinweg über den Kottbusser Damm, als auch der Park selbst nahe genug am nächsten Krankenhaus sind, wo man mich, über den unangenehmen Umweg eines kurzen Herzstillstandes, innerhalb von 10 Minuten wieder in den Sinusrhythmus bringen würde.
Wie schon an den beiden vorangegangenen Tagen, begleitete mich eine dunkle Wolkenwand. Es war schwülwarm. Ich hoffte, nicht wieder in einen Guss zu geraten, wie am Vortag, als ich eine halbe Stunde bei Getränke Hoffmann festhing und auf den splatternden Regen schaute, der mir wie eine nasse Wand den Rückweg versperrte.
Am Hermannplatz ließ ich in einem kleinen türkischen Geschäft Passfotos machen und fragte mich für eine Sekunde was passieren würde, wenn genau in diesem Augenblick mein Herzrhythmus umspränge, meine Haut schlagartig wachsweiss und mein Gesichtsausdruck sich fast zur Unkenntlichkeit verändern würde. Ob der Fotograf cool bleiben und ich dann auf die Fotos warten könnte, während der Notarzt mir Adenosin injiziert.
Atmen.
Die Aufnahmen verliefen komplikationslos und die türkischen Kinder drückten sich währenddessen interessiert um meinen Hund herum, der gelassen und sehr schmutzig auf mich wartete.
Als ich mit den Bildern den Laden verließ und nach vorne schaute, sah ich dort eine große Frau gehen.
Sie war etwa fünf Meter von mir entfernt, zwischen uns liefen ein paar Passanten, aber trotzdem konnte ich sie genau erkennen.
Es durchfuhr mich wie ein Stromschlag und Tränen stiegen mir in die Augen.
Das war B.! Keine Frage. Die Locken, die Größe, der Gang, ihre Art zu sprechen und dabei zu gestikulieren.
Bildete ich mir das ein, nach all den Jahren? Konnte ich mich wirklich noch so gut an sie erinnern?
Täuschte mich mein Gedächtnis?
Mein Herz schlug wild im Hals, die Handflächen wurden feucht und die Gedanken sprangen von damals zu heute.
Von der toten Freundin zu dieser Frau.
Und wenn sie sich gar nicht erhängt sondern einfach nur ein neues Leben begonnen hatte?
Ich wusste, dass das Unsinn war, aber ich hoffte, dass es anders wäre.
Dass sie noch lebte und dieses Gefühl, das ich für sie hatte wieder ein Ziel, ein Zuhause finden würde.
Am liebsten hätte ich diese Fremde, die ich nur von hinten und im Halbprofil sah umarmt, so vertraut war sie mir.
Ich wollte all die Liebe, die ich empfand, und die seit B.s Tod in die gleiche tiefe Zisterne gesickert war wie die Zuneigung für die anderen Toten oder Ungeborenen, oder für Jene, denen ich nie begegnet bin, über ihr ausschütten.
Endlich wieder ihren Namen benutzen können. Ihn laut aussprechen und sie antworten hören.
Die Namen. Sie bleiben, herrenlos
Mit den Lippen formte ich die beiden Silben, während ich noch immer hinter der Frau herlief, die auch deswegen nicht B. sein konnte, weil sie in den sechzehn Jahren seit ihrem Tode nicht um einen Tag gealtert war.
Ob sie mich heute, wenn sie noch lebte, sofort erkennen würde?
Als Sie an der Bushaltestelle stehen blieb, ging ich langsam und ohne mich umzudrehen an ihr vorbei.
Ein kurzer Blick nur aus dem Augenwinkel.

Es fiel mir schwer, sie zurück zu lassen, und die Zisterne wieder zu verschließen, deren einziger Ablauf die Tränen sind, die ich seit Jahren nicht mehr geweint habe.

16 Kommentare zu “Vorahnung

  1. Das kursiv gedruckte „Die Namen. Sie bleiben, herrenlos“, ist das ein Zitat? – mir kommt es so bekannt vor? Naja, falls nicht (und auch, falls doch), fand ich das eine besonders schöne Zeile, sie hat es ziemlich in sich… Man will durch den Text irgendwie alles über B. wissen, er übermittelt dieses sehr sehnsüchtige und irgendwie schmerzhafte Gefühl, aber das auf sehr schöne Art und Weise, also wirklich wunderbarer Text!

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    • @hideandseek411

      Das kursiv Geschriebene ist kein Zitat. Es ist ein Gedanke von mir, der sich mir einbrannte, weil er so schmerzhaft war.

      Es freut mich, dass der Text dich erreicht hat.

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  2. Wie so oft fehlen mir die Worte, die richtigen, bei deinen Texten. Deswegen was ganz Banales: bei Getränke Hoffmann blieb ich kurz hängen beim Lesen und bekam einen Ohrwurm. Manchmal kann ich Sven Regener so gar nicht leiden, manchmal aber auch wieder sehr.

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  3. Das mit der Zisterne kenne ich nicht. Bei mir ist hier eine Gleichheit der Zeiten. Das macht das Leben nicht einfacher z.B. Ich fahre durch die Stadt, hier ist die Kneipe in der ich mich immer mit Fl. traf. Die Tür geht auf, nein er kann es nicht sein, er ist jetzt schon 9 Jahre tot. Trotzdem spreche ich innerlich mit ihm….

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    • Auch mein Schmerz ist an Orte gebunden, die ich mir Schritt für Schritt zurück erobern musste, um sie wieder auszuhalten.
      Eines Tages, als ich auf Wohnungssuche war, wurde mir von einer Maklerin genau die Wohnung angeboten, in der B. sich erhängt hatte.
      Als ich am Telefon ablehnte, sagte sie: „Sie haben die Wohnung doch noch gar nicht gesehen!“
      Ich antwortete ihr, dass ich sie sehr gut kenne, weil meine Freundin sich darin erhängt hat. Betretenes Schweigen.
      Ein merkwürdiger Zufall.
      Mit Toten zu sprechen halte ich für eine schöne Art in Kontakt zu bleiben.

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  4. Ist es Mystik Vorahnung mit einem Gespenst zu verknüpfen? Oder war es ein lange verdrängter Gedanke, der das Unmögliche Realität werden ließ? So ein Verlußt ist nicht zu bewältigen. Irgendwann musste diese Frau erscheinen, unabhängig von den Locken, der Größe und des Gangs. Sie ist eine Nachricht. Eine Nachricht von Dir an Dich.

    Ich kenne Deine Geschichte nur zu gut. Es tut immer noch weh – mission completed. Doch wenn ich wirklich darüber nachdenke, dann sehe ich sein Gesicht. Es lächelt. Ich wünschte, er wäre hier. Er hätte Dir gut gefallen.

    Die Begegnung mit Deinem Text ist eine Nachricht. Eine Nachricht von mir an mich. Wie denkt man über einen Freund nach? Genau so denke ich an ihn. Sein Gesicht lächelt. Es hätte Dir gut gefallen.

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  5. @Joachim

    die Begegnung mit der toten Freundin war tatsächlich eine Nachricht. Eine ganz andere als man erwarten würde.
    Sie hat mir geholfen etwas mehr Klarheit zu bekommen, über etwas, das mich beschäftigt.

    Es tut mir leid, dass auch du das erleben musst.
    Vielleicht hätte er mir gefallen.
    Schade, dass ich ihn nicht kennenlernen konnte.

    Ich freue mich, wenn der Text auch eine Nachricht an dich ist.

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