Borderline. Die Grenzgängerin.

Deutsch: Borderline, 2010

(Photo credit: Wikipedia)

Oft stand sie, die Arme vor der Brust verschränkt, am Fenster und blickte über die Schrebergartenkolonien hinweg nach Süden, wo sich die verwaschene Linie des Spessart in der Ferne blau abzeichnete.
Sie drehte sich nicht um, und bewegte sich auch nicht, sondern blieb stumm dort stehen, wenn ich nach Hause kam und vorsichtig über die knarrende Küchenschwelle trat. Keine Regung. Es schien, als würde sie nicht einmal atmen, und ich versuchte heraus zu finden in welcher Stimmung sie sich befand und wie ich mich verhalten musste.
Die verschränkten Arme waren ein erster Hinweis, aber das konnte täuschen. Auch ihr Schweigen war kein gutes Zeichen. Andererseits gab es Tage, an denen dies auf eine, für sie größtmögliche, Friedfertigkeit und Entspanntheit hindeutete.
Entscheidend war die Schulterpartie, die Haltung ihres Kopfes und die des Beckens.
Waren die Schultern nach oben gezogen, der Kopf gerade aufgerichtet, und trat unter ihren, zum Zopf gebundenen, dunklen Haaren die Längsmuskulatur des Halses deutlich hervor, war Vorsicht geboten.
Hingen die Schultern aber nach unten, wirkten die Muskeln unter ihrer enganliegenden Bluse weich und entspannt, war der Kopf vielleicht sogar ein wenig zur Seite geneigt und das Becken nach vorne gekippt, dann musste ich mir keine Sorgen machen.
Dies waren wichtige Beobachtungen, und abhängig von meiner Einschätzung wählte ich den Ton, die Lautstärke und die Worte, mit denen ich sie begrüßte.
An manchen Tagen hing das Unheil so sichtbar im Raum, wie die Schwaden ihres erkalteten Zigarettenrauches, so dass ich mich ohne Gruß umdrehte und auf leisen Sohlen nach oben in mein Zimmer schlich, wo ich die Türe verriegelte, mich unter meinen Schreibtisch setzte und auf die Rückkehr meiner Geschwister, oder das Erwachen meines Vaters aus dem Mittagsschlaf wartete. Die Zeit dort vertrieb ich mir mit Kopfrechnen.

Kleines und großes Einmaleins, Multiplikation, Division, Addition und Subtraktion.

An anderen Tagen begrüßte ich sie fröhlich, und hoffte auf die ansteckende Wirkung meines Tonfalles.
Mitunter war es ratsam mit möglichst monotoner Stimme zu ihr zu sprechen, die ich je nach Bedarf in Richtung Resignation oder Gleichgültigkeit modulierte.
Auch eine traurige Sprachmelodie konnte hilfreich sein, um etwaige Wutanfälle von vorne herein zu verhindern oder abzumildern. Manchmal allerdings erweckte der Habitus des Opfers erst recht ihren Zorn, weil sie entweder die Taktik erkannte, die sich dahinter zu verbergen versuchte, oder aber die Anklage verstand, die die gespielte Unterwürfigkeit gegen sie erhob.
Am unbehaglichsten fühlte ich mich, wenn sie sich nach meinem Eintreten langsam umdrehte und mit versteinerter Miene und zurück genommener Stimme zu mir sprach. In diesen Momenten war alles möglich, und sie verfügte über ein breit gefächertes Repertoire an Rollen und ein ebenso umfangreiches Instrumentarium an Werkzeugen, mit denen sie mich mit wenigen Sätzen und Blicken jeden Tag auf´s neue vernichten konnte.
Beunruhigt war ich auch dann, wenn ich in ein übermäßig stark geschminktes Gesicht, mit schwarzem Lidschatten und dunkel getuschten Wimpern blickte, aus dem mich ihre schmalen, hellrosa übermalten Lippen merkwürdig euphorisch anschielten. Ein fast untrügliches Zeichen dafür, dass sie getrunken hatte.
Hallo, Katherlieschen“, sagte sie dann mit kieksender Stimme und ging einen Schritt auf mich zu „hast du Hunger?“
Es war mir unheimlich, wenn sie so zu mir sprach, und etwas zog sich in mir zusammen. Nur mit Mühe konnte ich meinen Unwillen gegenüber dieser, allein dem Alkohol geschuldeten, verbalen Zärtlichkeit verbergen, von der ich wusste, dass sie jeden Augenblick in rasende Wut und blinde Gewalt umschlagen konnte.
„Hallo Mama“, antwortete ich dann so liebevoll ich konnte und horchte meinen Worten hinterher, die flach und ohne Leben meinen Körper verließen. Aus irgendeinem Grunde erinnerte mich der Hall meiner eigenen Stimme in dem hohen Raum an die schmucklose Kirche, in der ich konfirmiert worden, und deren hölzerne Empore der Ort eines jahrelang wiederkehrenden Alptraumes war.
„Was gibt es denn zu essen“, tat ich interessiert und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.
„Setz dich“, antwortete sie und nahm einen Teller aus dem Schrank. Jetzt erst sah ich, dass ihre linke Hand verbunden war und große Teile der Mullbinde, die sie um Zeigefinger und Ringfinger gewickelt hatte, von dunkelrotem Blut durchtränkt waren. Umständlich zog sie den Backofen auf, in dem sie das Mittagessen warm gehalten hatte, und klatschte es mit betont unbeholfenen Bewegungen auf meinen Teller.
„Nicht so viel, bitte!“
Zu spät. Sie stellte einen mit Fleisch, Gemüse, Kartoffeln und dunkler Sauce überladenen Teller geräuschvoll auf den Tisch, legte Besteck daneben, leckte den Daumen der verbundenen Hand ab und lehnte sich dann an die lange Arbeitsplatte in meinem Rücken. Ich hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete und spürte ihre Blicke, die jede meiner Bewegungen registrierten.
Das Essen schmeckte nach Mondamin, und das Fleisch war zäh, so dass ich Mühe hatte es zu zerkauen. Noch größere Schwierigkeiten bereitete es mir im Anschluss die trockenen Brocken herunter zu schlucken. Es war mir nicht erlaubt beim Essen zu trinken, und so wie die Dinge standen, wagte ich nicht mich über diese Regel hinweg zu setzen. Ich wusste, dass sie in einem labilen Zustand war, und dass schon die leiseste Unmutsbekundung meinerseits einen ungezügelten Zornes- oder Tränenausbruch nach sich ziehen konnte.
Ich wusste auch, dass ich mich nach ihrer Hand erkundigen musste, aber ich konnte nicht. Mehrmals legte ich die Worte zurecht, sagte sie mir innerlich auf, wählte den passenden Tonfall, ein erstauntes Bedauern, und bereitete meine Gesichtsmuskeln auf den Ausdruck betroffenen Mitgefühls vor. Dabei wusste ich, dass ich den richtigen Moment längst verpasst hatte. Der Zug war abgefahren. Ich hätte gleich fragen müssen, anstatt zu schweigen und dadurch die Idee aufkommen zu lassen es würde mich nicht interessieren, was ihr passiert war.
Aber ich hatte Angst, und ich ekelte mich vor ihr, wie sie betrunken und übermäßig geschminkt auf hohen Absätzen in ihrem hautengen Rock und der noch engeren Bluse steckte, die ihre großen Brüste besonders hervor hob. Jeder Satz, jede Frage konnte das Gemisch zum Explodieren bringen, und sie selbst hätte am wenigsten einschätzen oder benennen können, was mit ihr los war.
Schweigend aß ich weiter. Vielleicht sollte ich wenigstens das Essen loben und sie vorsichtig darauf vorbereiten, dass ich nicht die ganze Portion schaffen würde. Ich hörte, wie sie den Schrank über der Spüle öffnete. Ein leises Klirren. Sie stellte den Wasserhahn an, aber ich wusste auch so, dass sie jetzt einen großen Schluck aus ihrem Glas nahm. Noch einmal klirrte es, die Schranktür wurde geschlossen und plötzlich stand sie neben mir und hielt mir ihre Hand vor das Gesicht.
„Ist beim Fleisch schneiden passiert“,  erklärte sie. Ihre Stimme klang weinerlich und ich roch ihre Fahne. Rotwein.
Vor meinem inneren Auge sah ich dicke Blutstropfen auf die Schweinelende herunter fallen, sie mit verklebten Fingern weiter daran herum hantieren und das blutige Fleisch schließlich in einer Pfanne scharf anbraten .
Mein Magen hob sich. Ich legte das Besteck zur Seite und schaute auf ihre Hand.
Das sieht ja schlimm aus. Tut es noch sehr weh?“
Ja, es puckert.“ Sie freute sich über meine Frage.
Heute Abend bekommen wir Besuch“, sagte sie, du musst mir helfen die Haare zu waschen.“
Eine Weigerung kam nicht in Frage. Nicht in diesem Zustand.
Ja, klar.“
Ich stand auf und ließ meinen halbvollen Teller auf dem Küchentisch stehen. Zusammen gingen wir ins Bad, wo sie sich vor die Wanne kniete, und ihren schweren Kopf über den Rand hängte. Ich setzte mich dazu, wartete bis das Wasser warm war, und ließ es vorsichtig über ihr feines Haar laufen. Sie stöhnte behaglich auf. Dann gab ich Shampoo auf meine Hand und massierte ihre Kopfhaut. Wieder stöhnte sie und drückte ihren Kopf in meine Hände, wie eine rollige Katze. Nach dem Ausspülen frottierte ich ihre Haare, was sie zu weiterem Stöhnen und leisem Juchzen veranlasste. Als sie sich schließlich föhnte, ging ich in die Küche, warf mein Essen in den Mülleimer, nahm ihr Glas und die angebrochene Flasche Rotwein aus dem Schrank und kippte alles in den Ausguss.

Dann ging ich nach oben in mein Zimmer, wo ich mich unter den Tisch setzte und rechnete.

58 Kommentare zu “Borderline. Die Grenzgängerin.

  1. Wow! Eine sehr intensive Skizze, die zu schreiben man nur erleiden kann. Die Unberechenbarkeit in jeder Ritze des Verhaltens. Glückwunsch zum Text, Mitgefühl für die Erfahrung hierzu, auf welcher Seite der Grenzlinie auch immer sie gemacht wurde.

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  2. Kinder von suchtkranken oder persönlichkeitsgestörten Eltern lernen vor allem jede Regung des Gegenübers sofort zu erfassen und ihr Verhalten darauf abzustimmen.
    Ich freue mich, dass du die Situation miterleben konntest.

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    • Was mich so sehr an diesem Text beeindruckt, ist wie klar die Mechanismen beschrieben sind. Diese Kinder verlieren ja meist das Gefühl für sich selbst, sind nur noch auf die Eltern gerichtet und verstehen ja auch nicht, dass das alles Wahnsinn ist. Sie spüren es, aber da muss erst eine immense Seelenarbeit vor sich gehen, bis ein solch starker, klarer Text bei rauskommt. Das bewundere ich, das war sehr wichtig für mich, ihn zu lesen.

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      • Als Kind glaubt man, dass das Leben eben so ist. Man liebt seine Eltern. Trotzdem erlebt man den Alltag als beängstigend und als tägliche Hirnwäsche.
        Irgenwann habe ich den Begriff „Inkonsequenz“ gelernt und dachte, das ist es. Viel später, während meines Studiums stieß ich auf ein Buch zum Thema Borderline und verstand plötzlich, was da los gewesen war.
        Für den Text habe ich 8 Stunden gebraucht. Die meiste Zeit davon mit geschlossenen Augen. Die Bilder, die dabei entstanden sind habe ich „abgeschrieben“.
        Es freut mich, wenn sie dir etwas sagen und dir gut tun.
        Überhaupt ist das eine gute Art sich mit Themen auseinander zu setzen und sie damit zu bannen und ad acta zu legen.
        Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass eine Therapie, bei der eine nicht involvierte Person alles noch einmal sortiert und dabei ruhig auch Partei ergreifend ist (für den Klienten) ein guter Weg ist um Klarheit zu bekommen.
        Bei mir war es so.

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  3. Vielen Dank für diesen starken Text. Gut, dass du das überstanden hast (und schlimm, dass du es musstest…). So eine Schreibtischhöhlenzuflucht kannte ich auch, aus viel banaleren Gründen.

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    • Danke.
      Zum Glück ist das alles ganz weit weg.
      Schreibtischhöhlen sind gut. Noch besser war nur der Einbauschrank, den ich später bekam.
      Er war an eine Schräge angepasst, und da die Rückwand fehlte, hatte ich darin Zugang zu einer Steckdose, vor die er gebaut worden war. Im Schutze meiner Klamotten saß ich dort im Dunkeln, konnte meinen Cassettenrecorder laufen lassen und „Ballroom Blitz“ hören.

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  4. Acht Stunden… ja, kenn ich. Auf eine Weise schrecklich vertraut. Gleichzeitig beeindruckt mich wieder einmal Dein minutiöses Gedächtnis. Hast Du bewusst die Vergangenheitsform gewählt?

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    • Mein minutiöses Gedächtnis ist Ergebnis einer Art Kontemplation, in die ich mich begebe, wenn ich schreibe.
      Ich schließe, wie ich schon schrieb, die Augen und gehe in Gedanken den ganzen `Weg´noch einmal nach.
      Dabei sehe ich, wie jemand mit eidetischem Gedächtnis alles wieder ganz genau vor mir. Ich fühle und rieche es auch.
      Im Grunde muss ich es dann nur abschreiben und die exakten Worte für das finden, was ich sehe, damit es auch für andere sichtbar wird.
      Im Alltag, also ohne diese Versenkung, ist mein Gedächtnis zwar gut, aber nicht so detailgenau.

      Ich bin beeindruckt, wie aufmerksam du liest, Pagophila!
      Als der Text fertig war merkte ich, dass ich ihn in der Vergangenheitsform abgefasst habe, und fragte mich warum.
      Ich weiß es nicht, vermute aber, dass ich so die notwendige Distanz zu dem Thema herstellen konnte.
      Der Text weiß, wie so oft, Dinge die ich nicht weiß.

      Schrecklich vertraut? Du hast mal so etwas angedeutet bei dir drüben.

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      • Ich habe während des Lesens fast zwanghaft ins Präsens übersetzt. Dadurch rückte mir der Text natürlich noch stärker zu Leibe. Das liegt aber sicher an meiner Disposition. Es hat lange gedauert, bis ich diese übernatürliche Empathie, die die Lichtbildwerkerin erwähnt, richtig deuten konnte. Aus der Distanz betrachtet, finde ich es faszinierend, solche Strategien zu erkennen. Wie sie gleichzeitig Leben retten und auch wieder zur Falle werden können. Jedenfalls hast Du ganz wunderbar zum Ausdruck gebracht, was die Crux an einem solchen Dauerausnahmezustand ist. Ich schätze sie einfach sehr, die Art, wie Du mit Deinen Texten in die Tiefe lotest.

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        • „Aus der Distanz betrachtet, finde ich es faszinierend, solche Strategien zu erkennen. Wie sie gleichzeitig Leben retten und auch wieder zur Falle werden können.“

          Es gibt einen Zeitpunkt im Leben, wo man verstehen muss, dass die Überlebensstrategien der Kindheit und Jugend den lebendigen Beziehungen der Gegenwart schaden, sie sogar zerstören können.

          Danke für dein Lob, das mich wie immmer freut!

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  5. Konnte deine Seite nicht verlassen, ohne dir gesagt haben zu müssen, dass dieser Text einen wirklich berührt und zum Nachdenken anregt. Für einen kleinen Moment ist man selber dieses kleine Kind, für einen kleinen Moment sieht man die Welt mit anderen Augen, spürt die Angst und die Spannung im Raum. Auch wenn man als Außenstehender und Zuschauer niemals verstehen wird was du durchgemacht hast, bekommt man dennoch für einen kurzen Moment einen Einblick, der einen erschüttert.

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    • Danke für deinen Kommentar!
      Ich hoffe, du bist nicht zu sehr erschüttert. Ich bin es nicht mehr.
      Das liegt alles sehr lange zurück, und ich sehe heute auch die Hölle der Borderlinerin, die als Mutter vollkommen versagen musste, und die immer ein einsamer Mensch blieb.

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  6. Sprachlich und literarisch ein ungeheuer starkes Stück in Prosa. So und nicht anders müßten Prosaminiaturen aussehen. Diesen Text bloß als den Ausdruck von privatem Leid oder irgendwie biographisch im Sinne der Pathologie zu lesen, halte ich für ganz und gar verfehlt. Denn ansonsten hieße der Beitrag: Ein Schwank aus meinem Leben. Der Text besteht als „Produkt“, als Struktur für sich. Es ist das beklemmende Milieu der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, es reift darin das Ich einer Erzählerin aus. Das sollte weiterverfolgt werden. In einer langen Distanz und über die Prosaminiatur hinaus.

    Erzählen, das sich jenseits der üblichen Befindlichkeiten von „ich und mein ich und mein Freund und meine Problemzonen“ ansiedelt, schreibt sich genau in dieser Weise.

    Ich habe diesen Text mit großem Gewinn und mit leuchtenden Augen gelesen, weil er so fein und genau beobachtet und mit einem Szenario des Grauens, das zugleich mit der Liebe, die nicht zum Ausdruck kommen kann, gefüttert ist.

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    • Danke, Bersarin.
      Der Text handelt von einer Borderlinerin und ihrer Familie. Das Ganze spielt im mittelständischen Milieu.
      Der eigentliche Drama sind nicht die alltäglichen Grausamkeiten, die nicht übernommene Verantwortung der Mutter oder die Angst und seelische Verwahrlosung der Tochter. Das sind lediglich die Symptome der „Vergegnung“; einer „Liebe, die nicht zum Ausdruck kommen kann“. Bei der Mutter nicht, und auch nicht bei der Tochter.
      Hier liegt für mich die Wurzel allen Unglücks. Das Gefängnis der Einsamkeit.
      Dass ich die Tochter war ist Zufall und setzt mich in die Position eine genaue Innensicht zu zeigen.
      Ich schreibe am liebsten über Dinge, von denen ich etwas verstehe, oder von denen ich wenigstens ein sehr genaues Bild habe.
      Ich freue mich, dass die Botschaft bei dir ankam, und dir der Text gefällt.
      Es lag mir fern mich als Opfer darzustellen. Die Reaktionen der Leserschaft empfinde ich als solidarisch und mitfühlend.

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  7. All dies liegt ja sehr lange zurück. Demnach ist es total verständlich, dass es in der Vergangenheitsform geschrieben wurde. Die Gegenwartsform hätte wohl nicht gepasst. Ich denke mit der Vergangheitsform kann zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Erlebnisse irgendwie schon lange verarbeitet sind. Die Erinnerung daran wird für immer bleiben. Aber es ist Vergangenheit, nicht wahr?

    Als Leser bin ich neugierig geworden. Wer waren die Geschwister. Wann kamen diese nach Hause. Und wann kam der Vater nach Hause?
    Was für ein Verhältnis zur Mutter hatten die anderen Familien-Mitglieder?
    Am Abend wurde Besuch erwartet. Wie gab sich die Mutter in Gesellschaft? Machte sie dem Besuch gegenüber einen betrunkenen Eindruck?

    Aber auch ohne diese ganzen Einzelheiten ist es eine sehr eindruckvolle Darstellung und steht sehr gut für sich alleine. Die Gefühle des Mädchens werden sehr gut zum Ausdruck gebracht. Das Alter des Mädchens ist zu erraten, da sie schon konfirmiert worden war. Ich nehme an, dass das Mädchen auch den Rest der Familie recht gut beobachtet haben wird. Aber es ist vielleicht gerade besonders eindrucksvoll, dass der Leser über den Rest der Familie nichts weiss!

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    • @auntyuta

      Pagophila kennt meine Texte. Üblicherweise schwenke ich, auch wenn ich aus der Vergangenheit erzähle, vom Perfekt ins Präsens. Und zwar immer dann, wenn der entscheidende Teil der Handlung kommt. Dadurch wird alles was ich schreibe viel unmittelbarer. Dieses Mal war es nicht so, und ich weiß selbst nicht genau warum.

      Zu deinen Fragen: in diesem Blog erzähle ich nach und nach einzelne Eriegnisse aus meinem Leben, Miniaturen, wie Bersarin es nannte. Dabei kommt mal meine ältere Schwester, mal mein älterer Bruder und auch mein Vater vor.
      Das Verhältnis zu einer Borderliner-Mutter und -ehefrau ist für alle Familienmitglieder schwierig.
      Zufällig war ich das Kind, auf das sie am schlechtesten zu sprechen war, was nicht bedeutet, dass es für die anderen leicht war.
      Borderliner sind interessante, lustige, unterhaltsame, liebenswerte Menschen und Freunde. So lange, bis die Situation kippt. Freunde haben nie etwas gemerkt, denn sie konnte über Stunden die mondäne Gastgeberin sein.
      Allerdings hielten viele Freundschaften nicht lange, denn ein Borderliner verdammt ebenso willkürlich und grenzenlos, wie er vergöttert.

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      • Hab vielen Dank für diese Antwort,Tiker. Ich bin ja neu auf deinem Blog. Ich möchte nun sehr gern noch deine anderen Berichte über deine Kindheitserlebnisse finden.

        Ich kannte den Ausdruck Borderliner bisher nicht. Aber ich glaube ich fange so langsam an zu verstehen, was damit gemeint ist. Erst dachte ich, du meintest die Mutter war Alkoholikerin. Der Alkohol kann ja Menschen über die Grenze schicken von dem was die Umwelt noch akzeptabel findet. Aber hier spielen wohl gewisse Charaktereigenschaften eine Rolle. Einige Charaktereigenschaften deiner Mutter erinnern mich ein bisschen an die von meiner Mutter, obwohl meine Mutter keinerlei Probleme mit dem Alkohol hatte. Jedoch hat einer meiner Brüder grosse Probleme mit Alkohol!

        Ich nehme an, es ist in diesen Blogs üblich, dass man sich duzt.
        Ich lebe mit meinem Mann schon seit 1959 in Australien. In Englisch ist das mit dem Du ja kein Problem.

        Mein Mann, Berlioz, der ein gebürtiger Kreuzberger ist, hat mich auf deinen Blog aufmerksam gemacht. Ich finde es gut, wenn ein Blog zu umfassender Diskussion anregt.

        Viele Grüsse aus dem fernen Australien von

        Uta

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  8. So beeindruckend. Es ist beängstigend wie sehr sich Kinder zurücknehmen, um den, von dem sie abhängig sind, nicht zu reizen oder zu verärgern. Ich glaube, diese Leute wissen gar nicht, welche Macht und welchen Einfluss sie haben. Gänsehaut. Danke.

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    • Kinder handeln intuitiv. Sie begreifen nicht, was los ist, aber sie spüren es.
      Borderliner sind, zumindest, wenn die Störung so stark ausgeprägt ist wie hier im Text, nicht zurchnungsfähig.
      Sie haben ein Gespür für Macht, ge- und missbrauchen diese auch regelmäßig, gleichzeitig sind sie hilflos wie blinde Hundwelpen. Wer könnte ihnen also etwas verübeln.
      Darin steckt ein weiteres Dilemma für das Kind: wohin mit der Wut, der Angst, der Unsicherheit?
      Es gibt niemanden, den man verantwortlich machen kann. Stattdessen übernimmt das Kind für den Erwachsenen Verantwortung, fühlt sich schuldig an dessen Zustand, anstatt von ihm (hier: ihr) an die Hand genmmen zu werden.
      Traurig für beide Seiten.

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  9. Meine Schulfreundin hat es ähnlich erlebt. Viel später erzählte sie mir, dass ich die einzige gewesen sei, die sie besucht habe, sich nicht hätte abschrecken lassen von dieser seltsam-unberechenbaren Stimmung.
    In Worte konnte ich es nicht fassen, aber als ich den Text las, fiel es mir wieder ein, wie es in diesem Hause war.

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    • Merkwürdigerweise ist die Antwort, die ich dir geschrieben hatte verschwunden.
      Ich kann mir vorstellen, dass du für deine Freundin ein Anker warst.
      Interessant, dass du als Kind diese Stimmung wahrgenommen hast.
      „Seltsam-unberechenbar“ trifft es gut.
      Es ist meist nicht greifbar, irgenwie vage. Die ganze Kommunikation ist gestört durch falsche Signale, inadäquate Reaktionen, im Positiven, wie auch im Negativen.
      Als Kind hätte ich niemals beschrieben können, was da los war.

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  10. @ uta

    kinder, die aus dysfunktionalen familien stammen entwickeln selber oft eine eigene abhängigkeit (alkohol etc) oder co-abhängigkeit.

    und die meisten wissen sehr wenig, wie komplex das ganze familenmuster ist – außer du gehst selber in die therapie.
    und/oder machst dich schlau!

    und bist dann noch in der glücklichen lage einen in dieser angelegenheit gut ausgebildeteten berater zu finden.

    für mich als mutter ist es wiederum äußerst wichtig, meine muster und verhaltensweisen nicht an meinen sohn weiterzugeben.

    das beeinhaltet sehr viel selbstreflexion, bewusstseinsarbeit, trauma aufzulösen und vor allem: sich selbst gern haben!!

    ein langer weg – der niemals aufhört. denn die dämonen beißen einen
    hin und wieder einfach wieder in den hintern.

    @ tikerscherk

    sehr hilfreich für mich war auch:

    wenn frauen zu sehr lieben – die heimliche sucht gebraucht zu werden
    von robin norwood

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    • Moin Kalypso,
      es ist richtig, dass Kinder aus dysfunktionalen Familien zur Sucht und Co-Abhängigkeit neigen.
      Dies, mit therapeutischer Unterstützung im Blick zu behalten ist wichtig.
      Die Therapie muss dabei aber nicht lebensbegleitend sein.
      Oft genügt ein Anstoß, um die pathologischen Strukturen zu erkennen und um Werkzeug an die Hand zu bekommen sie zu ändern (zum Beispiel indem man durch einen Ortswechsel aus ihnen aussteigt)
      Bei mir jedenfalls war es so.

      Es gibt keine Dämonen.

      Mit „zu sehr lieben“ und der Sucht „gebraucht zu werden“ habe ich keinerlei Probleme.
      Im Gegenteil- ich kann gar nicht genug lieben.
      ;)

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      • auch ein zuviel an liebe ist schädlich – und wenn jemand meint, dass er keinerlei probleme hat………o.k.

        ich verabschiede mich hier aus deinem blog!

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        • Bist du jetzt beleidigt, weil ich weder zuviel noch zuwenig liebe, und weil ich, wie du (ironisch) mutmaßt „keinerlei Probleme“ habe?
          Gönn´s mir doch einfach.

          Du musst mir nichts ankündigen.
          Triff deine Entscheidungen und handle entsprechend.

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  11. Die andere Seite:

    Ich bin ein Vater, dessen Kinder das erleben mussten, an mir. Nachdem ich ich unendliche Dramen angerichtet – und auch erlitten – habe, ist es uns; meinen Kindern und mir; nach langer Zeit und konsequenter Abstinenz gelungen, wieder Beziehungen zueinander zu entwickeln, die auf ein gewisses Maß an Vertrauen aufbauen. Der Weg dahin war lang und beschwerlich.

    Mit der Zuschreibung Borderline Syndrom laufe ich seit Jahrzehnten durch die Welt. Diese mir irgendwann einmal nicht mehr zu eigen gemacht zu haben, hat mir bei der Integration meiner ureigensten Geschichte in mein heute anderes Leben sehr geholfen. Abstinenz war die Voraussetzung, ohne die sich niemals etwas geändert hätte.

    Danke für deinen Text und die Möglichkeit, meine eigene Rolle und Betroffenheit an dieser Stelle anonym und doch öffentlich kundzutun.

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    • Hallo derwars,

      danke für deinen Kommentar.
      Es ist schön zu lesen, dass du wieder Kontakt zu deinen Kindern hast und ihr sogar Vertrauen zueinander finden konntet.
      Abstinenz war ganz sicher ein wichtiger Schritt dahin.

      „Mit der Zuschreibung Borderline Syndrom laufe ich seit Jahrzehnten durch die Welt. Diese mir irgendwann einmal nicht mehr zu eigen gemacht zu haben, hat mir bei der Integration meiner ureigensten Geschichte in mein heute anderes Leben sehr geholfen.“

      Das glaube ich dir. Die Zuschreibung allein kann schon ein Hemmschuh sein sich daraus zu befreien.
      Bei meiner Mutter haben leider weder Abstinenz noch Therapie geholfen. Ihre Therapeutin hat es nicht geschafft der faszinierenden und einnehmenden Seite ihrer PErsönlichkiet zu widerstehen und sich nicht involvieren zu lassen.
      Inzwischen ist sie schon sehr lange verschwunden und hat den Kontakt zu ihren Kindern vollständig abgebrochen.
      Heute überwiegen mein Mitgefühl und Trauer über die missglückte Beziehung die Wut, den Ekel und manchmal auch den Hass, den ich in diesen Jahren verspürt habe.
      Ich wünsche dir weiterhin ein gutes Gelingen in deinen persönlichen Beziehungen und ein liebevolles Verhältnis zu dir selbst.

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  12. Ich habe mir schon einmal die Lektorenrolle angemaßt und hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel. Die Grammatik eines Satzes ist mir gerade aufgefallen: „Es waren dies wichtige Beobachtungen“. Diesen Stil des doppelten Pronomens verwendet Bersarin sehr häufig, hier habe ich das noch nicht gelesen.
    Bei ihm passt das, denn es soll dies (!) ja die Warte der Vernunft (oder „kalten Struktur“) beanspruchen, die von einem entpersonalisierten Standpunkt aus objektivierend analysiert.
    Bei Ihnen aber wirkt es m. E. nicht nur umständlich, sondern unterläuft auch den Spannungsbogen. Denn nur für das Ich des Textes waren das (überlebens)wichtige Beobachtungen, für niemand sonst, was ja auch durch das folgende „und abhängig von meiner Einschätzung“ ganz klar wird. Die direkte Formulierung „diese Beobachtungen waren wichtig“ würde die vorhergehende Beschreibung mit den gezogenen Schlüssen präziser und existenzieller verbinden und würde auch das Tempo der Gedanken des daueralarmierten Kindes, das jedes Zeichen der Mutter sofort auf mögliche Gefahrenquellen prüft, besser nachvollziehen.

    Jenseits der Beschreibung der bedrückenden Atmosphäre ist Ihnen die Darstellung der Anstrengung, die diese permanente Risikowahrnehmung erfordert, sehr beeindruckend gelungen.

    Schönen Sonntag.

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    • Werter Sachverständiger,

      ich freue mich über Vorschläge zur Verbesserung meiner Texte. Danke, dass Sie sich die Zeit dafür nehmen.
      Anders als Sie oder auch Bersarin stelle ich beim Schreiben keine Überlegungen an.
      Ich schreibe einfach. An manchen Sätzen feile ich dann noch ein wenig herum. Andere lasse ich stehen, auch wenn sie holpern, weil ich es manchmal mag, wenn man über eine Schwelle stolpert, sich umschaut und dann erst weiter geht.
      Immerhin haben Sie diesen Satz als störend empfunden, und das nehme ich ernst.
      Ich habe nicht den Eindruck, dass ich in irgendeiner Weise wie Bersarin schreibe, der sich, aus meiner Sicht ja gerne einerseits den kühlen Anstrich gibt, andererseits auch den geheimnisvollen. Der Offenleger und Vernebler in einem. Bitte fragen Sie mich nicht, wie ich das meine. Ein reines Gefühl. (Dass Bersarin gut formulieren kann steht für mich außer Frage, es sind aber, wie Sie ja auch schreiben, ganz andere Texte)

      Dieser Satz nun, um den es hier geht, stellt vielleicht für einen kurzen Moment wieder die Außenperspektive dar. Den Blick des erwachsenen Menschen, der Außenstehenden erklärt, wieso all diese Beobachtungen so wichtig waren.
      Ich kann nicht sagen, wieso ich ihn so geschrieben habe, und ich bin, wie schon bei dem „Gesichtsausdruck“ beim Lesen daran hängen geblieben, konnte mich aber nicht davon trennen, weil er für mich mehr Wucht hat als die von Ihnen vorgeschlagene Alternative, die mir fast ein wenig zu rund erscheint.
      Können Sie nachvollziehen, was ich meine?

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      • Sie schreiben in keiner Weise „wie“ irgendjemand anderes, sonst würde ich Ihre Texte nicht regelmäßig lesen, sondern bei „wie“ im Original mich aufhalten. Eben deshalb und weil Sie, wie Sie schon häufiger bemerkten, den Text eher geschehen lassen als ihn zu kalkulieren, merke ich manchmal das an, was mir auffällt. Als Gesprächsangebot über etwas, das man so oder eben auch anders schreiben und damit sehen kann.
        Ich kann Ihren Ansatz durchaus nachvollziehen und auch den Bersarins. Es sind eben zwei (oder gar drei?) mögliche Weisen, eine Wirklichkeit zum Text werden zu lassen. Da ich mir keine Vorschriften machen lasse, wie ich Ihre oder andere Texte lese, werde ich den Teufel tun, Ihnen zu sagen, was Sie zu schreiben haben.
        Trotzdem und unabhängig davon, wie Sie es hier ausdrücken, bleibt meine Frage offen: Gibt es in Ihrer Wahrnehmung an diesem Punkt den Sprung nach außen? Denn „Wucht“ würde in meinem Verstehen das Gegenteil bedeuten. Wo Wucht waltet, dort ist kein Ort und keine Zeit des distanzierten Überlegens. Möglicherweise stimmen wir in der Sache überein und divergieren in der Form. Das soll vorkommen.

        Jetzt aber wirklich zum schon mehrfach gewünschten Sonntag, hier ist das Wetter zu gut für den Bildschirm. Bis demnächst.

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      • Das passiert, wenn man ‚auf dem Sprung‘ liest und schreibt: Man wird ungenau. Sie haben meine Frage beantwortet. Mein letzter Absatz ist daher hinfällig. Außerdem kann ich Ihre Formgebung jetzt angemessener nachvollziehen.

        So weit, so gut. Übrigens bringen Sie mir Ihren Widerspruch immer so schonend nahe, als ob ich den Eindruck übermäßiger Empfindlichkeit erwecken würde. Tue ich das? Dann täuscht es. Wenn ich meine Meinung hören will, dann führe ich Selbstgespräche. Brillante Konversation, aber manchmal etwas eintönig. Dann schreibe ich hier und lasse mich korrigieren.
        Tun Sie sich also keinen Zwang an, ich tue es auch nicht. Außer dem gern ertragenen der Höflichkeit, den schätze ich. Daher wie stets einen Gruß: Schönen Abend.

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        • Nun habe ich noch eine ganze Weile nachgedacht, wie ich Ihre Frage besser beantworten könnte.
          Das Wort „Wucht“ trifft überhaupt nicht den Punkt.
          Wenn ich „es waren dies..“ schreibe, trete ich einen Schritt zurück. Ich erkläre dem Leser, warum dies ales von Bedeutung war, das erklärte ich Ihnen ja schon. Möglicherweise musste ich beim Schreiben auch selbst einen Schritt zurück tun von den Klippen.

          Warum ich so höflich zu Ihnen bin hat mehere Gründe.
          Der erste liegt in Ihrer angenehmen Art zu kommentieren begründet, und den Denkanstößen, die Sie mir geben,
          und die ich wertschätze.
          Zum Zweiten Siezen wir uns, und das zieht bei mir zwangsläufig eine noch größere Höflichkiet nach sich.
          Zum Dritten habe ich durch einen Kommentar von Ihnen vor einiger Zeit, den Eindruck gewonnen, dass Sie durchaus ein sensibler Mensch sind, und ich möchte Ihnen nicht auf die Füße treten.
          Und schließlich: im „richtigen Leben“ bin ich durchaus nicht immer so höflich und einlenkend. Ich kann sehr impulsiv sein und weniger mild sein.
          Aber da habe ich auch die Möglichkeit ein Lächeln, oder einen Handschlag, eine Umarmung oder ein Schulterklopfen zur Kommunikation zu nutzen.
          Hier in der „Blogwelt“ haben wir nur Worte. Ohne Gesten, Stimmlage, Blicke. Was geschrieben ist bleibt geschrieben.
          Wenn einer geht, kann ich nicht hinterher gehen und irgend etwas gerade biegen.
          Auch deswegen, und weil ich Höflichkeit für eine Tugend halte, bemühe ich mich darum immer freundlich zu bleiben.
          Es fällt mir überdies nicht schwer.
          Es gibt nur eine Person mit der ich hier wirklich aneinander gerasselt bin.
          (Bersarin ist es nicht. Der will nur spielen.)

          Mich würde übrigens sehr interessieren, wie sie hierher gefunden haben, falls sie das noch wissen.Schön jedenfalls, dass Sie hier sind.
          Einen schönen Abend auch Ihnen.

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        • Kurzer Nachtrag zur Sensibilität und Empfindlichkeit: ich gebrauche und denke diese Worte synonym.
          Ein Zuviel von beidem zeige ich an, indem ich ihnen oder „über“ voranstelle.
          Wie unterscheiden Sie die beiden Begriffe?

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      • Höflichkeit ist in der Tat eine Tugend. Sie beruht allerdings auf Gegenseitigkeit und ist damit von Symmetrie getragen. Eben der bekannte Wald, in den gerufen wird und der dann Laute von sich gibt. [Ich bin ein großer Freund der traurigen Nymphe Echo. Wunderbar gedichtet in Ovids Metamorphosen.]

        Ich selber bin ein durch und durch höflicher Mensch, sobald Menschen in angemessener Weise miteinander diskutieren und solange man mir nicht dumm kommt oder mir mit Verve erzählt, im Himmel sei Jahrmarkt bzw. wenn jemand Thesen aufstellt, die nahe am Schwachsinn gebaut sind. Der Sachverständige und ich sehen manches unterschiedlich. Dennoch gehen wir höflich miteinander um, wir tauschen Argumente aus. Polemik kann übrigens ebenfalls höflich sein.

        Andererseits halte ich nichts von einer Form, die ich Höflichkeitskuscheln nenne, ein Phänomen insbesondere in der Blogwelt: Ich tu dir nicht weh, also tu mir auch nicht weh! Es gibt Blogs, da geht alles Kommentieren in lauter Wohlergehen und Liebhaben auf, ein Reigen des gegenseitigen Lobens. Und so sind manche Blogs keine der Diskussion, sondern eine Ansammlung von Nettigkeitsaustausch. Sicherlich verständlich in einer durch und durch verhärteten Welt. Aber es gibt eben Themen, da muß diskutiert werden und da geht es manchmal auch heiß her.

        Was heißt: „Bersarin ist es nicht. Der will nur spielen.“? Ich bin gewiß spielerisch veranlagt. In diesem Blog jedoch sicherlich nicht, sondern ich äußere mich zu bestimmten Themen und Aspekten. Die Art, wie ich mich äußere, ist von der Sache getragen. Manchmal kommt ein spielerischer Aspekt hinzu.

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        • Meine Güte, Bersarin! Mit „Der will nur spielen“, meinte ich natürlich nicht, dass du spielen möchtest im Sinne von spielen.
          Ich wollte nur klar stellen, dass du nicht der Blogger bist, mit dem ich aneinander geraten bin, weil ich befürchtet, es könne bei dem Tonfall, der zwischen uns herrscht, so aussehen als ob.
          Dass du streitbar bist/ sein kannst, konnte ich auf deienm Blog schon lesen.
          Vielleicht sollten wir uns siezen, so wie der werte Sachverständige und ich. Dann wäre der Ton zwischen uns unter Umständen etwas milder.
          Vielleicht wollen wir das aber gar nicht, und spielen lieber weiter.

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      • Sie haben natürlich recht: Die Kommunikation, in der nur das geschriebene Wort zählt, hat Ihre eigenen Tücken. Ein Scherz, bei dem man das Lächeln nicht sehen kann, mag da ins Auge gehen. Aber gerade weil Sie mir Sensibilität zusprechen, was ich als schönes Kompliment empfinde, will ich dies doch von Empfindlichkeit unterscheiden.
        Gerade in der ‚Bloggosphäre‘ wimmelt es offensichtlich von Existenzen, die noch viel zarter sind als in der realen Welt. Eine nur dahin geworfene Bemerkung wird dort schnell zum Anlass für dümmliche Zänkereien. Es entzieht sich meinem Verständnis, dass so viel Zeit für Nichtigkeiten aufgewendet wird, anstatt Dinge zu klären oder einfach seiner Wege zu gehen.

        Gerade die Abwesenheit von Nichtigkeit führte mich allerdings hierher oder besser: sie ließ mich bleiben, denn der Weg war beabsichtigter Zufall. Ich habe in einigen gedanken- und verpflichtungsfreien Tagen nur mal diese ‚Szene‘ erkunden wollen und bin dazu quer durch unzählige Blogs gewandert, anhand der Rolls, der Verlinkungen, whatever. Ein ziemlich absurder Kosmos. Im Normalfall benutze ich das Netz gezielt, schon allein um gesundheitliche Risiken zu minimieren. Es schadet sonst dem Verstand und der Seele, da bin ich mir sicher. Der Trip hatte aber Qualitäten, besonders die Erfahrung des Sammelsuriums der Eitelkeiten.

        Wie auch immer: Hier blieb ich und siezte Sie, weil es mich angeht, mir nicht egal ist. Weil Sie so schreiben, dass es mich nachdenken lässt. Weil drei Worte wie „es waren dies“ ganz offensichtlich verschiedene Welten entstehen lassen können, über die das gemeinsame Gespräch lohnt. Denn diese Welten sind bewohnt und daher lege ich Wert auf Ihre und meine Worte, sie erst zeigen die Heimat der Bewohner.
        Das alles bedeutet nicht, dass ich Ihre Meinungen stets teile, eher selten und daher erwarte ich das auch nicht von Ihnen. Sie machen vieles Selbstverständliche für mich denk- und fragwürdig und mehr verlange ich von Texten nicht. Insofern können Sie mir mit Widerspruch nicht „auf die Füße treten“. Aber es stimmt, im Prinzip könnten Sie das anders, denn es ist mir wichtig, was und wie Sie schreiben. Eine emotionale Regung über ins Netz gestellte Worte bringe ich sonst nicht auf, weil sie mir meist auch dann gleichgültig bleiben, wenn sie sich auf Texte von mir beziehen. Sensibilität muss sich auch darin bewähren, Unwichtiges und Überflüssiges sein zu lassen.

        Wir können also unseren höflichen Umgang als vergnügte Tugend beibehalten und weiter mit Gewinn voneinander lesen, ohne auf rohen Eiern zu laufen. Wenn etwas ‚falsch ankommt‘, dann, denke ich, sind wir in der Lage, Missverständnisse zu klären.
        „Gute Nacht, John-Boy.“

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      • Ganz anders.
        Wichtig sind mir vor allem die unterschiedlichen Positionen auf der Skala von passiv zu aktiv. Das können wir bei Gelegenheit vertiefen, nur ganz kurz: Jede Möglichkeit, einen Reiz aufzunehmen, erfordert eine Fähigkeit, eine Disposition. Lichtsignale müssen aufgenommen werden können, um zu sehen. Aber sehen ist etwas anderes als hinsehen. Dazwischen tritt Verarbeitung und diese Verarbeitung verändert die Art des Sehens. Da sind keine klaren Grenzen, deshalb spreche ich von Skala.
        Sensibilität ist dann eine zumindest zum Teil erlernbare Fähigkeit, deren Bewegung vom Empfänger des Reizes in den Sender verläuft. Die Verarbeitung spürt dem Reiz nach, erkundet ihn und seine Bedingungen und der sensible Empfänger geht so in der Verarbeitung aus sich heraus.
        Empfindlichkeit nimmt den Reiz auf und prüft nur, ob er für den Empfänger unmittelbar positiv oder negativ ist. Ich werde gestreichelt, das ist schön, ich werde hart angefasst, das ist nicht schön. Unwichtig, aus welcher Situation sich das eine oder andere ergibt, welcher Sinn dahinter steht und wie dieser Sinn sich dann erst negativ oder positiv weiterführen ließe. Der empfindliche Empfänger bleibt in sich verschlossen.
        Deutsch würde ich statt Sensibilität eher Empfindungsfähigkeit oder Empfindungsstärke verwenden, aber beide sind meist schlechtere Varianten. Sehr gezielt und betont können sie besser sein, da sie einen etwas anderen Akzent haben.
        Hoffe, das erhellt meine Meinung wie ein Blitz.

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  13. @ Sachverständiger
    In der Tat: Die Logik hängt häufig am Detail. Ich lese die Sentenz als Intermittierendes, und insofern ist die adverbiale Bestimmung, die im Textstrom diese Sentenz markiert, von der Verfasserin gekonnt vorgenommen und von der geschilderten Story her ästhetisch sinnvoll motiviert. Jener Satz unterbricht die Beschreibung eines Angstages und furchtbares Geschehen: jenes Kind, das beständig auf der Hut sein muß und in der Anspannung in jedem Augenblick registriert, wie wohl die nächste Szene verlaufen wird und wie diese ohne Schaden zu überstehen sei. Jener Satz verweist rückblickend, im deiktischen Moment – als shortcut gleichsam – auf das Geschehene, verdichtet es in der Bestimmung und setzt zur Reflexion an, um einen Abwehrschirm zu erreichten und Strategien zu entwickeln, setzt von der Außenperspektive des erzählenden Ichs adverbial-deiktisch unterbrechend an, um dann fortzufahren. Insofern handelt es sich um einen sprachlich geschickt gewählten kompositorischen Kniff. Wenngleich sicherlich die Textsorten, die tikerscherk macht, von den meinen doch sehr sich unterscheiden, so ist das „dies“ von der Verfasserin sprachlich exakt gesetzt. Tikerscherk ist eine Schriftstellerin und schildert Szenen. Bersarin betreibt lediglich Philosophie, beherrscht und füttert die Strukturen, wie andere ihr sehnsuchtsvolles Herz.

    Der Fluß des Textes wird vermittels der adverbialen Bestimmung „dies“ erst aufgeladen und kann durch solch kleine, als Kontrapunkt gesetzte Unterbrechung seine Fahrt weiter aufnehmen.

    „Diese Beobachtungen waren wichtig, und abhängig von meiner Einschätzung wählte ich den Ton, die Lautstärke und die Worte, mit denen ich sie begrüßte.“ Das klingt nach Hildesheim und Leipzig. Viel zu rund und harmonisierend im Gesamt der Form erzählt und ohne sprachlichen Bruch.

    „Es waren dies wichtige Beobachtungen, und abhängig von meiner Einschätzung wählte ich den Ton, die Lautstärke und die Worte, mit denen ich sie begrüßte.“ ist die einzig mögliche Weise, wie aus dem Grauen eine Fügung und eine Ausflucht gesetzt wird.

    Zudem: Gelungen gewählt ebenso als Anspielung der Kosename „Katerlieschen“. Sofort fallen einem die Gebrüder Grimm und jenes eigenwillige Märchen „Der Frieder und das Katherlieschen“ ein. Deformationsgeschehen als Parabel der kleinen Welt.

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  14. @ Bersarin

    Über philosophierendes Denken und Philosophie, die „betrieben“ wird, sind wir offensichtlich unterschiedlicher Auffassung. Ebenso darüber, ob Strukturen sich „beherrschen“ lassen oder ob sie nicht vielmehr autopoietisch und autonom sind und so sich jeglichem Zugriff entziehen.

    Das tut hier auch nichts zur Sache. Aber die benannte Differenz zwischen Schilderung und Fütterung (von was auch immer) markiert gut die Frage, die mein Vorschlag in sich trug. Existiert in der erzählerischen Logik genau an dieser Stelle ein view from nowhere als „Kontrapunkt“? Dann wäre der sprachliche Bruch selbstverständlich angeraten. Dies unabhängig davon, wonach er klingt, denn das Schielen auf Distinktion ist keine überzeugende Strategie schriftstellerischer Souveränität.
    Bleibt aber der aufgezwungene Überlebenskampf stets akut, gestattet er in der Interaktion zwischen Mutter und Kind keine Ruhephase und ist nur der Ort unter dem Tisch außerhalb dieser Welt – die „einzig mögliche Weise“ der „Ausflucht“ -, dann wäre die Formulierung hier unangemessen und ein wenig prätentiös.
    Es dürfte klar sein, dass ich die zweite Interpretation vertrete.

    Ebenso einen schönen Sonntag.

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  15. @ Sachverständiger
    Strukturen lassen sich niemals absolut beherrschen – ebenso wenig wie der Begriff des Sinnes. Allenfalls kann man sie freilegen und ihr abgründiges Moment zeigen, wie dies in verschiedenen Varianten der Poststrukturalismus unternimmt. Auch die Strukturen beruhen auf einem blinden Fleck, werden von einer bestimmten Rhetorik getragen, sind Ausdruck ökonomischer und geschichtlicher Umstände. Diese Aspekte arbeitet sowohl die Kritsche Theorie als auch die Dekonstruktion als Struktur-Moment heraus. Sie analysieren, sind aber in der Analyse selber nicht abschlußhaft. Sozusagen ein sich selbst vollbringender Skeptizismus, der immer schon unterminiert ist. Jegliche Sinnkohärenz bleibt Fiktion und Fixierung, beruht auf Rhetorik. Doch zurück zum Text:

    Ausflucht aus der Interaktion zwischen Mutter und Kind und der andere Blick stellen sich bereits im Akt des Schreibens ein, denn jedes Schreiben setzt die Distanz. Aber diese Differenz betrifft einen übergeordneten Aspekt

    Das Intermittierende oder die besondere Fügung ist kein Schielen auf Distinktion, sondern schlicht in der Sache gegründet. Der Vorwurf, auf Distinktion zu schielen, läßt sich übrigens gegen jegliche Äußerung wenden. (Omnis determinatio est negatio.) Ansonsten wäre die gesamte Lyrik Hölderlins ein einziges Schielen auf Distinktion. Im „Winkel von Hahrdt“ (http://de.wikisource.org/wiki/Der_Winkel_von_Hahrdt) z.B. existiert ebenfalls ein solch intermittierendes Moment: „Da nämlich ist Ulrich/Gegangen“: Der Schock des einbrechenden, den Naturzusammenhang unterbrechenden Namens, der Geschichte freisetzt. Im Unterschied zu tikerscherks Text jedoch ergibt sich in Hölderlins Gedicht ein Wendepunkt, während bei tikerscherk das „dies“ auf das notwendige Moment der Reflexion verweist. Es liegt nämlich an genau dieser Stelle des Textes ein Kontrapunkt, eine Perspektivverschiebung vor.

    Das von „tikerscherk“ verwendete „dies“ bricht die Unmittelbarkeit bzw. das Direkte des Erzählflusses auf. Der Satz „Es waren dies wichtige Beobachtungen, und abhängig von meiner Einschätzung wählte ich den Ton, die Lautstärke und die Worte, mit denen ich sie begrüßte.“ beinhaltet bereits in seiner Schilderung eine Perspektivenverschiebung und weist auf die Analyse, die ja bereits das Kind intuitiv oder auch ganz bewußt vornehmen muß. Das Kind überlegt – als Folgerung aus der vorhergehenden Schilderung – wie es besänftigend Ton, Lautstäre und die Wort einsetzen soll. Abhängig von seiner Einschätzung. Diese Reflexion sticht aus dem Strom des Erzählens heraus. Es sind diese Beobachtungen des Gestischen der Mutter, die sich in dem „dies“ verdichten, wichtige Voraussetzungen, um jene (überlebenswichtige) Einschätzung überhaupt erst vornehmen zu können. Insofern ist das outrierte „dies“ eine jener Fügungen, die eine Brechung erzeugen, gekonnt eingebaut, um den Aspekt der Reflexion noch einmal sprachlich hervorzuheben und in einer einzige intermittierenden Wendung hervorzuheben. Sprachlich ungemein klug durchgeführt. Wie jener „Ulrich“ im Hölderlingedicht.

    Ebenso wünsche ich einen guten Sonntag.

    @tikerscherk
    Philosophie wird betrieben, weil ich es für vermessen halte, wenn sich jemand Philosoph nennt. Es gibt nur sehr wenige Philosophen.

    Das Schreiben von Prosa-Miniaturen und das Analysieren derselben sind in der Tat zwei Paar Schuhe. Ansonsten gilt wie immer: der Künstler ist nicht gehalten, sein eigenes Werk zu verstehen. (Wobei ich Dich hier nicht mit einer Künstlerin gleichsetzen will, dazu fehlt das Werk.)

    Ich inszeniere mich nicht kühl, sondern ich bin es. Ich lege keinen Wert auf Zärtlichkeiten und Freundlichkeiten. Mich interessieren die Kunstwerke, die Dinge. Nicht die Menschen.

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