High Noon. Das langsame Sterben.

Seit Tagen habe ich eine Melodie im Ohr, die mich traurig stimmt.
Durch Zufall schaltete ich, auf der Suche nach Schlaf, in einen Schwarz-Weiß-Film hinein.
Obwohl ich Western nicht mag, nahm mich gleich die erste Einstellung, ein rauchender Cowboy, der in die Ferne blickt, und dazu der relaxte Sound des Titelsongs mit der angenehmen Männerstimme gefangen und spülte eine vage Erinnerung, ein beklemmendes Gefühl des Verlustes und der Trauer in mir hoch, das ich mir nicht erklären konnte.
Der Schmerz war so grundlegend, so fundamental und kam von ganz weit unten, von früher, aus einer Zeit, in der ich gerade erst in diese Welt geworfen  worden war, und mit gebundenen Händen versuchte zu schwimmen. Ein wildes Rudern und Strampeln, das nur das eine Ziel hatte: nach oben zu kommen um nicht zu ertrinken.
Und wie das Lied sich weiter entwickelt und zu dem Cowboy sich noch ein Zweiter und Dritter gesellen, so gesellt sich zu der tiefwurzelnden Trauer auch das Gefühl einer ungestillten Sehnsucht und eines schüchternen, kindlichen Glücks.
Die Bilder des Filmes mischen sich mit dem Bild einer schönen, dunkelhaarigen Frau, mit feinen Gesichtszügen und langen Beinen, die mit schwarzer Spitzen-Unterwäsche auf einem grüngestreiften Biedermeier-Sofa liegt und liest. Eine Zigarette in der rechten Hand, schwarze Pumps an den Füßen.
Sie, die Musik meist nicht ertragen konnte, sie als störend und unordentlich empfand, liebte diesen Film und dessen Titelsong. Seine Ausstrahlung im Fernsehen garantierte einen harmonischen Abend für die ganze Familie. Mit ihrer Stimmung stand und fiel alles.
Wie sie lächelte wenn Tex Ritter in den wenigen Strophen die ganze Filmhandlung vorweg nahm. Beim Refrain sang sie mit, und schien dabei so sehnsüchtig und zugleich hoffnungsvoll.
Ich liebte es, wenn sie so gut gelaunt war und zuversichtlich nach vorne blickte. Es machte mich selbst glücklich und euphorisch und gab mir das Gefühl, dass das Leben schön war und dass es immer besser werden würde und, dass sich alles irgendwie einrenken würde und das Glück dann dauerhaft auf unserer Seite wäre.
Aber das Glück war nicht beständig. Es war so flüchtig wie die Töne, die es herauf beschworen hatten, und bald schon fiel es in sich zusammen und der Himmel war wieder verhangen und grau wie zuvor. Oft auch schwarz, und von grollendem Donnern erfüllt.

Ich hatte eine Murmel in deren Inneren weiße, hell- und dunkelblaue Glasstränge ineinander verschlungen waren. Manchmal, wenn ich mich haltlos und einsam fühlte, hielt ich mir meine Murmel vor das linke Auge und dachte über das Leben und den Tod nach.
Wie war das gewesen, ehe ich geboren war? Wo war ich da? War die Zeit vor dem Leben auch der Tod und war der Tod hell oder dunkel?
Ich schloss die Augen und schaute ins Licht. So war der Tod. Hell wie die milchigen Stränge meiner Murmel. Das tröstete mich. Dann war es nicht schlimm zu sterben.

Eines Tages fand ich die Murmel nicht mehr. Sie hatte sie weg geworfen.

Inzwischen ist es über zwanzig Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.
Damals hatte sie ihre Koffer gepackt, die Konten abgeräumt und meinen Vater, kurz nach seinem schweren Infarkt, verlassen.
Es war im April, an Hitlers Geburtstag, als sie mir Hausverbot erteilte. Bald darauf war sie selbst auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Jetzt lebt sie in einem Heim. Sie ist früh an Alzheimer erkrankt und weiß nicht mehr wer wir sind.
Als sie merkte, dass  Erinnerung und Orientierung ihr Stück für Stück verloren gingen, hat sie sich selbst an diesen Ort begeben, bei vollem Verstand, um dort auf das Nachlassen desselben und das tiefe Vergessen zu warten.
Mit letzter Tinte hat sie ein Besuchsverbot für uns verfügt.
Beim Hören dieses Liedes denke ich an sie, und all die Erinnerungen und Hoffnungen, die sie mit in das Grab ihres erlöschenden Geistes genommen hat, und es macht mich sehr traurig.

 

 

Musik zum Text: High Noon Trailer

Do not forsake me, oh my darlin‘
On this, our weddin‘ day
Do not forsake me, oh my darlin‘
Wait, wait along

I do not know what fate awaits me
I only know I must be brave

And I must face a man who hates me
Or lie a coward, a craven coward
Or lie a coward in my grave

Oh, to be torn ‚tweenst love and duty
S’posin‘ I lose my fair-haired beauty
Look at that big hand move along
Nearin‘ high noon

He made a vow while in state prison
Vowed it would be my life or his’n
I’m not afraid of death but oh
What shall I do if you leave me?

Do not forsake me, oh my darlin‘
You made that promise as a bride
Do not forsake me, oh my darlin‘
Although you’re grievin‘, don’t think of leavin‘
Now that I need you by my side

Wait along,wait along, wait along
Wait along, wait along
Wait along ,wait along, wait along, wait along

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24 Kommentare zu “High Noon. Das langsame Sterben.

  1. Ein ausgezeichneter Post. Es doch interessant wie ein kleiner Anlass so einen Gedankenfluss auslösen kann. Ich muss schon sagen der Trailer gefällt mir besser als der Film selber. Es kam mir immer alles recht künstlich vor. Aber du verstehst das viel besser, hast du doch Film- und Theaterwissenschaften studiert.

    Im Übrigen, meine Tochter macht das hier auch.

    Freue mich schon auf andere Beiträge.

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  2. Gerade sitze ich hier und suche nach Formulierungen, die ausdrücken, was ich fühle. Leider kann ich mit Worten nicht so umgehen wie du. Dein Text hat mich vom ersten Satz an emotional mitgenommen. Ich lese deine Posts immer gern und mag deine Art zu schreiben unglaublich gern, weil sie mich entführt und in den Bann zieht, ohne das ich mir Mühe geben muss, mich darauf zu konzentrieren, wie es mir sonst so oft geht.
    Und heute hat es mich emotional tief berührt, deine Gefühle, auf deine einzigartige Weise beschrieben, ein Schrei in E-Moll. Ich bin tief berührt.
    Warum weiß ich noch nicht genau, darüber werde ich nachdenken. High Noon, so viel steht fest, spielte auch in meiner Familie eine Rolle.

    Weißt du, was ich schon oft dachte: Wenn sie ein Buch schreiben würde, würde ich es mir sofort kaufen und mich damit aufs Bett zurückziehen und versinken. Ich würde es selber lesen, kein Hörbuch, mir nicht vorlesen lassen, keine Ablenkung.

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    • Liebe Conny,
      herzlichen Dank für den lieben Kommentar!
      Ich glaube, dass es für jeden Menschen schlimm ist seine Eltern zu verlieren. Deswegen geht dir der TExt nahe. Obwohl ich mit dieser Geschichte lebe, geht es auch mir immer wieder so.
      Ich trauere um eine Mutter, die ihre Rolle nie ausfüllen konnte, und die jetzt für immer verloren ist. Die GEwissheit, dass das nicht mehr gut werden kann, ist das Schmerzhafte daran. Die Hoffnung ist weg.
      Wenn ich mal ein Buch veröffentliche, schicke ich dir ein Freiexemplar. Bei dir ist es gut aufgehoben.
      Danke!

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      • Ja, vielleicht ist es das. Meine Eltern leben noch, aber das Thema Tod, Verlust, Trauer und Angst vor diesem überwältigendem Schmerz berührt mich und darin, wie du den Schmerz beschrieben hast, erkenne ich mich.

        Vorerst freue ich mich, dass du überhaupt schreibst und ich deine Texte lesen darf. :-) Danke!

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  3. Man müsste tief in ihre verletzte Seele blicken können, um zu verstehen, so scheint es mir, warum sie jede Form von Mitgefühl in ihrem Leben, sowohl es zu schenken als auch anzunehmen, abgelehnt hat und diesen Weg in erschreckender Konsequenz zu Ende geht.

    Ich habe den Film auch gesehen, weil ich ihn immer anschaue, wenn er gezeigt wird. Western ist nicht gleich Western. Dieser ist einer der besten und mit einem wunderbaren Lied dazu…

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    • Nicht alle Western sind schlecht. Das stimmt.
      Dieser jedenfalls ist ein Guter.

      Du sprichst genau den wunden Punkt an: man müsste in ihre Seele blicken können.
      Aber man kann es nicht mehr. Und früher konnte man es auch nicht.
      Meine Mutter ist mir eine Fremde geblieben, die nur in wenigen, gezählten Momenten den Vorhang gelüftet und sich gezeigt hat. Oder das gezeigt hat, was ich für sie hielt und halten wollte.
      Se hatte, aber das wusste ich als Kind nicht, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.
      Alles was sie tat bewegte sich zwischen den Polen Hass und Liebe. Ablehnung und Annahme.

      Das ist schwer für Kinder. Morgens, wenn man aus dem Haus geht ist alles in Ordnung, und Mittags, wenn man zurück kehrt bricht die Hölle über einem zusammen.
      Was heute lustig ist, ist morgen falsch und wird geahndet.

      Ich hoffe, dass es ihr gut geht und sie nicht leiden muss.

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      • Diese Unberechenbarkeit habe ich mit meinem Vater erlebt. Als Kind kann man das nicht verstehen. Viel später habe ich dann begonnen, mir die Scherben, die mir geblieben sind, genauer anzusehen. Nachdem der Zorn sich gelegt hatte, von dem ich lange Zeit nicht einmal wusste, dass es Zorn war.

        Ich finde es schön, dass Du trotz allem gute Gedanken für sie hast.

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        • Auch ich habe mir die Scherben lange und immer wieder angeschaut, und es gab Zeiten, da habe ich sie gehasst. Zutiefst.
          Aber jetzt ist das vorbei. Ich bin inzwischen (fast) darüber hinweg.
          Außerdem kann ich auf jemanden, der am Boden liegt keine Wut mehr empfinden. Und: ist das überhaupt noch sie selbst?
          Hast du denn Frieden mit deinem Vater machen können?
          Ich meine nicht nur kein Zorn mehr, sondern ein gutes Gefühl?

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      • Manche Scherben sitzen tief, aber es gelingt mir mittlerweile, auch den Menschen zu sehen, der nichts mit dem zu tun hat, was zwischen uns war. Ja, ich denke, dass ich auf einem guten Weg bin.

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    • Ja, das ist traurig. Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen.
      Ich lebe inzwischen ohne dauerhaften Kummer damit. Nur manchmal, löst ein kleines Ereignis, hier ein Lied, etwas aus, und die Erinnerung und die Traurigkeit sind wieder da.
      So ist das gerade.

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  4. Es ist unglaublich, wie Du die Vergangenheit in Deinen Texten schilderst. Es berührt mich jedes Mal aufs Neue und ich bin sehr froh, dass Du über deine Traurigkeit schreibst, und sie dadurch rauslassen kannst. Ich denke an Dich und drücke Dich in Gedanken.

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  5. n’abend tikerscherk,

    also ich bin mittlerweile ein western-fan. liegt vielleicht auch daran, daß ich ein hausgemachtes stadtkind bin, und mit dem alter sehr naturverbunden geworden bin. und auch das thema freundschaft spielt eine immer größere rolle in meinem leben.
    also mein lieblingswestern ist: appaloosa – mit ed harris und viggo mortensen. und den viggo liebe ich heiß und innig :-))
    auch in „eastern promises“ – ein starkes stück film. armin müller-stahl ist auch grandios.
    und jetzt gibt es „die manns“ – ein unglaubliches stück deutscher geschichte.

    schönen abend – herzlichst
    kalypso

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  6. Oh… dieser tolle, sehr bewegende Text, bei dem kein Wort „daneben geht“, und das Lied dazu haben mir nun den Rest gegeben. Ich habe heute erst Zeit gefunden, ihn zu lesen und vielleicht war es gut, dass es heute war, nachdem ich selbst über meinen Vater geschrieben habe. Was du schreibst und auch was Pagophilia im Kommentar schreibt, das geht mir sehr nahe. Der Zorn, das ist etwas, mit dem ich mich jetzt erst auseinandersetze…. Danke für den schönen Text!

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    • Man spricht von den Phasen der Trauer. neben Ablehnung, Nicht-Wahr-Haben-Wollen, gibt es auch die Zeit des Zornes. Erst danach kann Akzeptanz und (innere) Versöhnung kommen.
      Zorn ist also notwendig, um Trauer (z.B. über das Verlassenwordensein) zu überwinden.
      Wenn ein Elternteil geht, bei dir der Vater, und soviele Fragen offen bleiben, dann ist das wie ein Erdrutsch.

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