Von Nacktmullen und Grottenolmen, oder Der Einkaufswagenmann

English: Compact shopping cart with 2 baskets,...

(Photo credit: Wikipedia)

Bei den endlosen Spaziergängen durch das Häusermeer Berlins, streifen mich manchmal Geschichten, denen ich gerne nachgehen würde.
Oft stelle ich mir das Leben der Menschen vor, die an der gegenüberliegenden Ampel, so wie ich, darauf warten, dass es grün wird oder der Verkehrsstrom eine Lücke zum Passieren freigibt, um dann, von unsichtbaren Fäden gezogen, ihrem jeweiligen Ziel entgegen zu streben.
Während des Wartens schauen wir uns über den dunklen Asphalt hinweg an, schätzen uns ab.
Sortieren vor oder gleich ein.
Beim Überqueren der Straße dann, vermeiden wir direkten Blickkontakt, hasten aneinander vorbei, und haben einander meist schon vergessen, wenn wir das andere Ufer erreichen und die nächste Welle uns fortreisst. Vorbei an noch mehr Menschen, neuen Gesichtern, Schuhen, Körpern, Taschen.
Episoden.
Mit manchen Menschen ist es anders. Da passiert mehr. Schon an der Ampel sehen wir uns an, erkennen uns, wie Komplizen, und sobald wir auf einer Höhe sind, treffen sich unsere Blicke, die Pupille weitet sich ein wenig und lässt das Bild hinein. Dort bewahren wir es auf, um es irgendwann wieder hervor zu holen, oder es einzuweben in den fortlaufenden Teppich unseres Lebens.
Spät kehre ich nach Hause zurück, und die eher flüchtigen Eindrücke des Tages schaukeln wie Treibgut auf dem Wasser. Einzelne werden an Land gespült und stumm betrachtet. Andere finden den Weg in meine Träume und verschwinden danach für immer.
Von all den Menschen, die mir da draußen begegnen, finde ich jene attraktiv, denen das Leben sich ins Gesicht gegraben hat, und deren Augen wach sind oder leuchten, wie die des afghanischen Flüchtlingsmädchen Sharbat Gula.
Neben den Attraktiven, gibt es noch die Solitären.
Ihre Einsamkeit umhüllt sie wie eine Husse, unter der sich das Eigentliche zwar abzeichnet, aber doch immer verborgen bleibt.
Da gibt es zum Beispiel diesen Mann Anfang Fünfzig, der in den frühen Morgenstunden, wenn die Straßen fast leer sind, unter zischenden Flüchen, mit einem Schaber Aufkleber von Mülleimern, Plakaten und Verkehrsschildern herunterkratzt. An seiner Seite der geduckt laufende, alte Schäferhund dessen zotteliges Fell so glanzlos ist, wie das seines Herrchens.
Wut ist sein Motor, Wahnsinn sein Auftraggeber.
Dann dieser furchtbar dünne Mensch, das Skelett, der halbbekleidet in der Welt der U-Bahnstationen lebt und aus dessen hohlen Augen der Tod blickt. Ich habe ihn oder sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.
Der Vollbärtige, Ende Fünfzig, der verhalten lachend, leise argumentierend und gestikulierend durch Kreuzberg läuft, und jener, der den Graefekiez in einer Art Stechschritt auf und ab spaziert, meist mit einem Becher schwarzem Kaffee in der Hand. Jeden Tag werden Haar und Bart ein Stück länger, die Nägel und das Gesicht ein wenig schwärzer, die Klamotten zerschlissener. Und dann, eines Tages, steht er plötzlich wieder blitzsauber, frisch rasiert, mit Kurzhaarschnitt und tiptop gekleidet da, und man kann seine klaren Gesichtszüge und die schönen Augen sehen. Bis wieder alles zugewuchert ist, und das Ganze von vorne los geht.
Dann der nette Typ aus der unmittelbaren Nachbarschaft, der ganz in schwarz gekleidet, mit schweren Stiefeln, breitem Nietengürtel, blondgefärbter 90er-Jahre-Matte, gespaltenen Ohrläppchen und unzähligen Ritznarben, die Knie leicht nach innen gedreht, durch den Kiez trabt und mit dem Hintern wackelt, wie eine Professionelle. Schon von weitem hört man den dumpfen Klang seiner Schuhe auf den Gehwegplatten.
Wir grüßen uns. Er eilt weiter.
Und schließlich gibt es noch ihn, den Einsamsten von Allen: den Einkaufswagenmann.
Er ist sehr klein und drahtig, hat weder Haare noch Augenbrauen, und trägt meist einen erstaunten Gesichtsausdruck. Seine Schuhe sind altmodisch und seine Hosen zu kurz. Er gehört zu den Menschen, deren Alter ich nur schwer schätzen kann. Er könnte Ende dreißig, oder schon sechzig sein.
Seine Aufgabe ist das Einsammeln, Sortieren und Zurückbringen von Einkaufswagen.
Wieselflink und hochkonzentriert läuft er in Mitte und Kreuzberg umher, und schielt und späht hinter jede Ecke, in jeden Hof und in jede Einfahrt. Oft sieht man ihn, wie er gleich mehrere Wagen vor sich herschiebt, um sie dahin zurück zu bringen, wo sie hin gehören.
Früher wartete er die meiste Zeit vor einem kleinen Supermarkt unweit des Alexanderplatzes und kümmerte sich darum, dass die Wagenschlange möglichst gerade in dem dafür vorgesehenen Bereich stand. Diese Aufgabe hielt ihn so auf Trab, dass er beinahe zu verzweifeln schien, wenn er zusehen musste, wie jemand einen Wagen, aus dem Konvoi entnahm, den er eben erst hinein geschoben hatte, oder, schlimmer noch, ein Kunde mit einem Wagen voller Einkäufe von dannen zog und er nichts dagegen tun konnte, weil er hier, vor seinem Markt die Stellung halten musste. In diesen Momenten schien es, als würde ihn die Bürde seiner Sisyphostätigkeit beinahe erdrücken.
Wie sollte er das alles auf einmal bewältigen? Wagen einsammeln, zusammenschieben, ausrichten, anderen
hinterherjagen und immer den Überblick behalten.
Trotz seiner ungewöhnlichen Erscheinung, und obwohl er so emsig hin- und herlief, um sein Terrain halbwegs in Ordnung zu halten, nahmen die Wenigsten Notiz von ihm, aber die, die ihn bemerkten, starrten, als wäre er ein Nacktmull oder ein Grottenolm am Badestrand.
Irgendwann schloss der Supermarkt, und der Flachbau stand zur Zwischenvermietung frei, um eines Tages abgerissen zu werden, und das Grundstück für den Bau profitabler Immobilien zu nutzen.
Mit der Schließung verschwand auch der Einkaufswagenmann und blieb eine ganze Weile verschollen.
Irgendwann, als ich an dem ehemaligen Supermarkt vorbei kam, fiel mir auf, dass ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, und ich fragte mich, was aus ihm geworden war. Immer mal wieder dachte ich in den nächsten Monaten an ihn, bis ich ihn schließlich vergessen hatte.
Vergangenen Sommer dann, stand er plötzlich am Straußberger Platz, natürlich in Begleitung eines Einkaufswagens, und ich spürte eine Freude und Erleichterung, die mich selbst überraschte. Es gab ihn also doch noch, und er ging seinem  gewohnten Geschäft nach.
Am liebsten wäre ich gleich zu ihm rüber gegangen, und hätte mit ihm gesprochen. Aber was hätte ich sagen können? Schön, dass Sie da sind, ich beobachte Ihr merkwürdiges Verhalten seit geraumer Zeit, und Sie haben mir gefehlt?
Danach sah ich ihn wieder öfter, und kürzlich erst begegnete er mir auf der Schillingbrücke, wo er gerade mit vogelartigen Kopfbewegungen das Gelände vor der Magdalena beäugte.
Er muss gespürt haben, dass ich ihn beobachtete, denn plötzlich drehte er sich zu mir um und schaute mich an. Ich lächelte und grüßte, was ihn für einen Moment zu verwirren schien. Dann ging ein Ruck ging durch seinen Körper, er richtete sich ganz gerade auf, strich innerlich seine Würde glatt, und stolzierte an mir vorbei.
Auf dem Gelände standen ohnehin keine Wagen.

Musik zum Text:

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39 Kommentare zu “Von Nacktmullen und Grottenolmen, oder Der Einkaufswagenmann

  1. „Dann dieser furchtbar dünne Mensch, das Skelett, der halbbekleidet in der Welt der S-Bahnstationen lebt …“. Bist Du sicher mit der S-Bahn?

    Wenn Du Stephan meinst? Der ist/war eigentlich mehr der U-Bahnmensch …

    http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2002/01/12/a0260

    Hab ihn lange nicht mehr gesehen. Vor etlichen Jahren letztmalig auf der 6. im KaDeWe, wo er sich einen Teller Tatar hat zubereiten lassen.

    LG PvD

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  2. Moin und danke für den Input am Morgen. Solche Gedanken und Situationen sind mir nicht fremd, vor allem die Erleichterung, die du beschreibst, wenn man den- oder diejenige doch wieder sieht. Nach dem taz-Artikel hat der Einkaufswagen-Mann nun ein ‚Gesicht‘ und ich viel nachzudenken.
    Schönen Tag für dich!

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  3. Stephan, genau! Natürlich wusste ich den Namen nicht mehr. Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie erstaunt ich war, als ich durch die o.g. Presseberichte erfuhr, dass er ein Mann war. (Und wie erleichtert, wenn ich ihn nach Jahren mal wieder sah – ist jetzt aber auch schon länger her). Den wird kaum jemand vergessen, der ihn mal traf, aber die Namen merken wir uns immer nur von so Leuten wie Sascha Lobo oder Miley Cyrus.
    In meiner hässlichen Ecke der Stadt schlurft mir öfters ein Mann mit Gehhilfen entgegen, der jetzt auch nicht unbedingt zu den Gewinnern dieses Dschungels hier gehört und mich schon zweimal bat, ihm seine dicke Wattejacke richtig zuzuknöpfen. Erinnern kann er sich wohl nicht mehr so gut, er schaut jedesmal erstaunt, wenn ich ihn grüsse.
    Das „Wir haben ja ganz schön viele runde Jubiläen“-Jahr hat ja gerade angefangen und WK Numero eins wird von Guido Knopp überall durchgekaut: Ein bisschen Fortschritt müssen wir wohl zugeben, vor hundert Jahren gab es bestimmt mehr Elend, vor 96 dann sowieso, Elend mit appen Beinen und Armen. Aber wir nähern uns dem wieder langsam, und da Grosz und Zille nicht mehr da sind, ist es gut, dass du ihre Vertretung übernommen hast. Danke!

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    • Es scheint, der U-Bahn-Mensch ist stadtbekannt. Ich hoffe, es geht ihm gut. Der Artikel in der taz hat mich schwer schockiert. 27 kg wiegt/ wog er nur.
      Du hast Recht: das Elend nimmt zu. Deutlich. Neulich las ich irgendwo die Zahl von 0,2 % Obdachlosen. Klingt ja erstmal gar nicht sooo schlimm. Wenn man das umrechnet in real Betroffene, ist es jeder Fünfhunderste. Davon lebt der Löwenanteil in der Stadt. Das ist sehr viel, finde ich.
      Die Menschen, über die ich hier schreibe, scheinen alle ein Zuhause zu haben, und arm oder richtig verwahrlost wirken sie auch nicht. Es ist etwas anderes, das ihr Leben so ungewöhnlich verlaufen lässt. Ich weiss nicht mal, ob sie unglücklich sind.
      In welchem Teil der Stadt lebst du?
      Für den Vergleich mit Zille und Grosz, möchte ich mich bedanken. Das ehrt mich, als Katastrophenchronistin sehr!

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      • …und der Löwenanteil der Obdachlosen, die in der Stadt leben, tut dies nicht in Dahlem oder an der Hundekehle…
        Ich wohne immer noch bzw. halt wieder im gleichen Teil der Stadt, ich dachte, ich hätte mich vorgestellt ;-) . Und fühl mich eben auch deshalb wohl, trotz allem, weil sie eben nicht unglücklich sind hier, jedenfalls nicht andauernd. Und auch wegen diesem „etwas anderes“.

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    • Danke!
      Der Stechschritmann hat vielleicht auch mal Camouflage getragen, aber ich erinnere mich nicht daran. Kenne ihn nur mit „normalen“ Klamotten.
      Ich glaube, ich weiß, wen du meinst: dieser Mann trägt immer Camouflage, und ist ebenso hier in Kreuzberg unterwegs, allerdings kenne ich ihn mehr aus meiner Ecke (Wrangel-/Mariannenkiez). Er hat dunkle, dünne lange Haare, und einen etwas paranoiden Blick. Immer schwere Armeestiefel. Meinst du den? Den hatte ich ganz vergessen!

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  4. Pingback: Die Rückkehr des Einkaufswagenmannes - Nante Berlin

  5. Dein atmosphärisch dichter und lebendiger Bericht gefällt mir und berührt mich. Diese Menschentypen machen eine Stadt aus, prägen ihr Gesicht. Der Rest wird im Grossen&Ganzen mittlerweile weltweit gleich. Und deine Beobachtungen und Beschreibungen bringen die Stadt zu mir. Vielen Dank dafür.
    Schöne Grüsse aus dem Bembelland

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    • Mich erkennen sie auch. Ist das jetzt ein gutes Zeichen, und sind wir gar verwandt?
      Wobei die Menschen, die ich hier beschreibe, ausgenommen der U-Bahn-Mann (der aber auch kein Geld will, jedenfalls nicht vom Staat, sondern nur ein bisschen Kupfer), gar kein Geld wollen.
      Sie wollen nur Ordnung, und zwar ihre ganz eigene.

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  6. Das ist schön, wie Du über die Menschen schreibst… Lange vorgehabt und endlich gemacht: Linkliste überarbeitet und Dich mit draufgesetzt! Liebe Grüße Greta

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