Lila Heimat

Street Art Petersburg 3-9Aug2011 (44)

Street Art Petersburg  (Photo credit: liborius)

Nach zwei schönen, spätsommerlichen Tagen in Lübeck, sitzen wir am Samstag Morgen beim Lila (Heimat)Bäcker (ich muss aufhören, immer einen Sinn in allem, selbst den dümmsten Firmennamen, zu suchen), der seinen Verkaufsstand in der, unweit des Hotel gelegenen, Netto– Filiale hat. Es ist sieben Uhr. Eine freundlich verhangene Sonne bescheint die Stadt.
Vor mir, auf dem weißen Kunststofftisch, steht mein Kaffee, daneben liegt der Einkauf für die Rückfahrt.
Die Goldschmiedin trinkt Espresso. Wir beraten, welche Route wir nach Berlin nehmen werden um nicht wieder bei Schwerin im Stau zu stehen. Vom Stehtisch hinter uns spricht uns ein Mann an.
Darf ich mich zu Ihnen setzen, fragt er, und fügt erklärend, ich kann nicht mehr so lange stehen, hinzu.
Er ist etwa fünfzig, gedrungen und fast haarlos. Seine Oberlider hängen schwer über den rot-geäderten Augen. Der Teint ist fahl. Die nach außen gebogenen Beine stecken in kurzen Hosen, die Waden sind knotig von tiefliegenden Krampfadern. Er trägt Sandalen mit Strümpfen.
Ja, sicher, sage ich, und schaue kurz zur Goldschmiedin. Unsere Blicke treffen sich.
Der Mann stellt seine Kaffeetasse und den Teller mit dem Mettbrötchen auf den Tisch und nimmt neben uns Platz. Kaum sitzt er, fängt er, wie nicht anders erwartet, an zu quatschen: Ihm tun die Beine weh, er will auf gar keinen Fall stören, aber stehen kann er auch nicht mehr. Leider. Nur sein Mettbrötchen will er schnell essen und eben seinen Kaffee trinken. Wir nicken stumm und versuchen ein Lächeln. Dann ruft er plötzlich mit der rauhen Stimme des Alkoholikers in die Nettofiliale hinein.
-Helga! Komm doch hierher mein Schatz!, zu uns gewandt: Kann meine Frau sich zu mir setzen?
-Ja, klar.

Helga kommt mit breitem Dämmergrinsen und halbgeschlossenen Augen an den Tisch. Sie ist klein und schlank und ohne Körperspannung. Der Hals ist, wie bei einem Huhn, nach vorne gestreckt, auf ihm sitzt ein kleiner Kopf, dessen fettiges, zu einem Zopf gebundenes Haar die Kopfhaut kaum bedeckt.
Zu einer Jogginghose trägt sie Sandalen und eine helle Fleecejacke. Ihre Brillengläser sind verschmiert. Augenblicklich habe ich den Geruch von altem Schweiß und Talg in der Nase. Hoffentlich öffnet sie nicht ihre Jacke.
-Ich lad dich zum Frühstück ein,
sagt der Mann in gereiztem Ton und die Frau grinst unbeteiligt in die Gegend.
Unser Gespräch ist verstummt, die Goldschmiedin dreht sich eine Zigarette und geht raus. Als ich mit den beiden alleine bin, legt er richtig los.

-Du sagst ja gar nix, spricht er mich an.
-Ich bin noch zu müde.
-Sie redet auch nicht, er zeigt auf seine Frau, die mit großen Kaubewegungen ihr Mettbrötchen zerkleinert.
-Sie isst doch, da kann sie schlecht reden, antworte ich.
-Ich bin schon seit zwei auf den Beinen, und du? duzt er mich weiter.

Ich blicke auf die Straße. Wie lange dauert eine Zigarette? Mein Kaffee ist noch halbvoll, und draußen ist es sehr frisch. Ich möchte mich nicht vertreiben lassen und stattdessen an der Bushaltestelle im Qualm stehen.
-Seit sechs. Was haben Sie denn schon gemacht, heute?
-Na, alles mögliche. Katzenfutter gekauft und so.
-Wo kann man denn so früh Futter kaufen?
-Das habe ich eben hier gekauft.
-Ach so.
-Ich bin Frührentner.
-Aha.
Jetzt mischt sich seine Frau ein. Sie hat braune Zähne, zwischen denen Mettstückchen hängen.
-Krebs, er hat Krebs, sagt sie, noch immer grinsend, und schaut dabei zu mir, ohne mich anzublicken. Ich zucke zusammen.
-Das muss nicht jeder wissen, unterbricht er sie. Sie schaut teilnahmslos weg und mahlt weiter auf ihrem Frühstück herum.
Wollen wir was spielen? fragt er mich jetzt.
-Ähm, nein. Tut mir leid. Ich bin zu müde, ich möchte jetzt lieber nicht spielen. Vor Überraschung stottere ich. Von draußen trifft mich ein mitleidiger Blick. Wie lange so eine Selbstgedrehte brennt.
-Wann bist du wieder hier? möchte er wissen.
-Wir reisen heute ab, antworte ich, und freue mich insgeheim darüber.
-Schade, sonst hätten wir Doke spielen können.
-Das wird leider nix. Wir sind gleich weg.
-Schade, sonst hätten wir Doke spielen können, wiederholt er.
-Doke? Nie gehört.
Jetzt meldet sich seine Frau zu Wort.
-Er will D-o-o-f-e spielen, erklärt sie, und ich bin erstaunt, dass sie überhaupt etwas mitbekommen hat.
-So
. Sie zeigt es mir, indem sie ihre Arme hochreisst, und dabei aussieht, wie die jubelnde Angela Merkel, wenn sie sich für die deutsche Fußballmannschaft freut.
Mit randvollem Mund ruft sie: Hurra, wir leben noch! So geht das Spiel! Offensichtlich hat sie Spaß.
Verlegen starre ich sie an. Mir ist schlecht von dem Anblick des Mettmatsches in ihrem Mund. Mir ist übel von dem fühllosen Er-hat-Krebs. Mir ist elend von dem Elend, von ihrer Verwahrlosung, der Selbstaufgabe. Bestimmt stinkt die ganze Wohnung nach Katzenpisse und Spirituosen, die Fenster werden nie geöffnet, das Sofa ist voller Flecken, und die beiden rauchen und trinken und urinieren Tag und Nacht.
Ich weiß nicht warum ich in solchen Momenten immer an die Eltern der jeweiligen tragischen Figuren denken muss.
Wie empfinden sie zu dem, was aus ihren Kindern geworden ist. Leben sie noch, oder haben sie sich selbst ins Grab gesoffen? Wie kann aus einem taufrischen, zarten Säugling ein solches Wrack werden? Was ist da passiert und warum hat es nicht aufgehört?
Die Zigarette ist geraucht. Ein verständiger Blick. Endlich weg hier. Ich verabschiede mich, schnappe die Tüte mit dem Gebäck, und wir verlassen den Lila Heimatbäcker. Hinter uns schließt sich die Automatiktür. Schweigend gehen wir ein paar Meter.
Als wir um die Ecke biegen, sehe ich ein halbleeres Hefeglas, auf einer steinernen Beeteinfassung stehen. Der Anblick des trübe ausflockenden Getränkes erinnert mich an den Morgenurin Nierenkranker. Auch die Farbe kommt hin.
Das ist bestimmt von dem Idioten, denke ich, und wundere mich, dass ich so wütend bin.
Zusammen holen wir die Hunde und gehen noch eine Runde spazieren, ehe wir ins Auto steigen und nach Hause fahren.

31 Kommentare zu “Lila Heimat

    • Ich kannte diesen Bäcker nicht. Wir hatten aber keine andere Wahl.
      Die Aliens haben einen ganz wunden Punkt in mir berührt, und sie haben mich, trotz ihrer bedauernswerten Verfassung, wütend gemacht.
      Die Umgebung hat sicher dazu beigetragen.
      Das Gebäck war natürlich scheußlich. Der Kaffee übrigens auch.

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  1. Supermärkte zählen für mich definitiv zu den von Gott verlassenen Orten und sind prädestiniert für Begegnungen dieser Art. Ähnlich wie Bahnhöfe oder gar Supermärkte in Bahnhöfen. Und manchmal ist es tatsächlich schwer, sich der Umklammerung solch bedauernswerter Geschöpfe zu entziehen. Lila Heimat. Traurig.

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  2. Supermärkte sind tödlich. Wenn möglich, meide ich sie.
    Auf Bahnhöfen fühle ich mich indes sehr wohl. Auch in deren Umgebung, und wenn sie noch so verkommen ist.
    Schienen, Gleise, Flughäfen und Häfen machen mich irgendwie froh und wehmütig zugleich.
    Die Beiden waren ein trauriger Anblick.
    Man sollte meinen, dass ich durch Berlin abgehärtet bin.
    Stimmt leider nicht.

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  3. Merkwürdig. Diese Wut. Kenne ich. Bekomme sie am liebsten IN Zügen, wo sie sich egal über wen ergiesst: Junge, Alte, Gesunde, Kranke, Dicke Dünne, Männer, Frauen, Laute, Leise. Meist aber nur in meinem Kopf. Ich denke, die Umgebung spielt eine große Rolle, vielleicht hätten Sie woanders ganz anders auf diese Leute reagiert. Wären einfach nur traurig und mitfühlend gewesen.

    Diese Zuneigung zu Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen teile ich auch. Wenn ich irgendwo hinfliege, bin ich Stunden vorher da, weil ich es so mag, einfach irgendwo zu sitzen und den Menschen beim Abreisen und Ankommen zuzusehen.

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    • Meine Wut kann ich eindeutig auf den Ort in Verbindung mit den Beiden zurückführen. Alkholismus macht mich fertig und traurig und hilflos. Ich kann das, was er mit Menschen macht, schlecht aushalten. Um diese Gefühle abzuwehren, werde ich wahrscheinlich wütend.
      Die Beiden haben mir trotzdem sehr leid getan.

      Die Unentrinnbarkeit im Zug, kann mich auch nerven, und dann nerven mich alle. Aber das fasst mir nicht so ans Herz. Sobald ich ausgestiegen bin, ist wieder alles gut.

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  4. Klingt vertraut, wie du das so einfühlsam schreibst. Wer hat solche Situationen nicht schon erlebt und die Diskrepanz der Gerfühle die irgendwo zwischen Angewidert sein, Mitleid und dem eigenen Kampf angesiedelt sind (ist man nicht mal wieder zu arrogant und das das eigentliche Leben?)

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    • Angewidert und berührt. Voller Ekel und Mitgefühl. Genau so war das. Ein innerer Kampf, und natürlich ein schlechtes Gewissen, dass ich überhaupt solche Wahrnehmungen habe (und so arrogant bin).
      Danke für den Kommentar!

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  5. Deprimierend, und deshalb schwer zu ertragen. (Nicht der Grund, warum ich Supermärkte meide. Könnte aber einer sein.) Wenn es Dich mitnimmt, schaust Du nicht weg — so ertragen es die allermeisten.

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  6. Auch mehr als 40 Jahre Berlin haben mich nicht soooooooo abgehärtet, dass mir solche Begegnungen nicht „an die Nieren“ gingen. Schlimm ist nur, dass ich mich inzwischen immer öfter frage, wie viel Prozent der Bevölkerung so oder so ähnlich lebt, weil sie verlernt haben, einen anderen Sinn in ihrem Leben zu suchen, zu finden oder zu haben.
    Ich denke, viele Kaufende in Supermärkten machen das nicht, weil sie diese „kuschelig“ finden, sondern weil sie am bequemsten zu Fuß zu erreichen sind und weil dort die Preise sehr viel moderater sind als auf Wochenmärkten oder anderen Geschäften. Ein Mindestrentner oder die sogenannten Hartz-IV-Empfänger können da nicht so wählerisch sein, wo sie ihre ca. 300,00 € für Essen, Kleidung, Strom, Verkehrsmittel, Telefon + Internet, u.a. für Zeitungsersatz, Versicherungen, Kultur, Reparaturen von Haushaltsgeräten usw. usf. ausgeben, ohne dass da Alkohol oder Zigaretten dabei sind.
    Mit monatlich mehr Geld verschieben sich die Ansichten zuungunsten derer, die mit soooooo wenig auskommen müssen.

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    • Natürlich hast du vollkommen recht, und es ist sicher ein Privileg nicht alles in Supermärkten einkaufen zu müssen, weil man es sich leisten kann.
      Es ist mir völlig klar, dass viele Menschen ohne Aldi und Lidl nicht über die Runden kämen.
      Aber nicht alle, bzw. der deutlich geringere Teil der Kunden, verwahrlost und verroht derart.
      Was ist denn da passiert, wo Menschen so mit sich selbst und miteinander umgehen? Welche Traumata haben diese Leben so zerstört?
      Mich erschüttern solche Begegnungen auch immer wieder, und dass sie mich zugleich auch wütend machen spiegelt meine Hilflosigkeit und auch meine persönliche Geschichte mit Alkoholikern.
      Danke für deinen nachddenklichen Kommentar!

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      • Vor mehr als 30 Jahren hatte ich eine Kollegin – Frau eines bekannten Schriftstellers – die durch die vielen „Trinkgelage“, die mit dem Ruhm ihres Mannes zusammenhingen, zur Alkoholikerin wurde. Drei Entziehungskuren hatte sie schon hinter sich und war immer wieder rückfällig geworden. – Ein einziges Mal war ich Zeugin so eines Delirium tremens gewesen – und das ist mir noch wie heute vor Augen. – Zum Glück haben wir sie „zwangseinweisen“ lassen und sie hat es geschafft. Es ist so unglaublich, was dieses Getränk aus Menschen machen kann. Bei ihr allerdings haben wir nichts gemerkt, da sie Spiegeltrinkerin war und immer was im Schreibtisch in einer Saftflasche stehen hatte. – Zum Glück bin ich z.Z. nur computersüchtig, aber das ist auch schon ungesund genug.

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        • Erstaunlich, wie Spiegeltrinker ihre Sucht so lange verbergen können, und auch bei hohem Pegel weitestgehen funktionieren. Die Frau hatte Glück, dass sie in eine Klinik kam.
          Meinst du Computersucht ist richtig ungesund? (ernst gemeinte Frage)

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      • Das, was du und ich jetzt gerade unter „süchtig“ verstehen, hat wohl mit echter Sucht nichts zu tun. Die Mutter einer Freundin ist spielsüchtig. Das hat am Anfang keiner ernst genommen, alle haen geglaubt, sie wolle sich im Casino nur ein wenig die Zeit vertreiben. Natürlich hat sie auf Befragen nicht die Wahrheit gesagt. Erst, als sie ihre Wohnung aufgeben musste, weil die Spielschulden so erdrückend waren, wurden die Töchter informiert und richtig stutzig. – Ich denke, wenn ein Jugendlicher sagt, er sitzt ca. 4 Stunden am Tag vor derm Computer, in Wirklichkeit sind es aber 8 oder mehr, ist ein wichtiges Suchtpotential gegeben, das Verheimlichen der Wahrheit. – Sicher hat es auch noch mit den Inhalten zu tun, die man sich dort ansieht – aber eine Gefahr sehe ich schon darin, einfach für die Haltung, die Augen, die soziale Kontaktfähigkeit zur Umwelt. Wenn letztere nur noch virtuell abläuft, dann tendiert es m.M. nach sehr stark in Richtung „ungesund“.
        Ich glaube, ich bin noch zu retten :-)

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  7. Konnte Helga und Mann riechen, den Mett-Mehl-Speisebrei auf den Zähnen deutlich vor mir sehen…. war alles so bildlich beschrieben… mich schüttelt´s gerade. Gut gemacht.

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  8. Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe und kannst dem Leser alles sehr gut in Schriftform nahe bringen.
    Die Unterhaltung zum Thema Alkoholismus ist für mich sehr interessant, da ich einen Bruder habe der in Berlin seinen Lebensabend in einem Heim verbringt. Er hat Im Laufe der Jahre mehrere Entziehungskuren gemacht, ist aber immer wieder dem Alkohol verfallen. Ja, da fragt man sich, warum?

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    • Es tut mir leid das von deinem Bruder zu lesen Warum er der Sucht verfiel, kann ich dir leider nicht beantworten.
      Zuviele Wege führen zum Alkoholismus oder zu einer anderen Sucht.
      An dem alten Spruch, dass Sucht sucht ist schon etwas dran.
      Was der Einzelne sucht erschließt sich meist bei genauem Hinsehen aus seiner Biografie.

      Danke für´s Lesen und für dein Kompliment!

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  9. Ja, ich finde du schreibst sehr interessant. Von dem, was du beschreibst, kann man sich richtig ein Bild machen. Auch schreckst du nicht davor zurück, deinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Ja,Gefühle spielen eine grosse Rolle, wie man etwas betrachtet. Ich habe in meinen Blogs anfänglich viel über meine Kindheitserlebnisse geschrieben. Da kommen natürlich auch meine beiden Brüder vor. Ein Bruder war immer sehr feinfühlig, der andere mehr unkompliziert. Der feinfühligere ist der, der später zum Alkoholiker wurde. Ich frage mich immer, ob er vielleicht nict genügend Beachtung bekam. Ich, als die Älteste, wurde immer mehr bevorzugt. Es tut mir weh, daran zu denken, wie er sich gefühlt haben mag, wenn er sich hinten angesetzt sah. Trotzdem zeigte er eigentlich nie eine ägerliche Regung mir gegenüber. Na ja, es ist eben alles sehr komplieziert.
    Danke, Tiker, für deine liebe Antwort.
    Hab recht schöne Osterfeiertage. Wir werden hier über Ostern viel Familienbesuch haben. Das finde ich imme schön.
    Viele Grüsse, Uta. :-)

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    • Hallo Uta,
      beinahe wäre mir dein Kommentar bei der Flut an Kommentaren untergegangen.

      Dass der feinfühlige Bruder derjeneige war, der die Suchtproblematik entwickelt hat, erstaunt mich nicht.
      Gräme dich nicht. Es ändert nichts und es schwächt dich.
      Ich wünsche dir schöne Ostern mit der Familie!

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