Aufkleber

Zurück in Berlin.
Lieber wäre ich jetzt in Hattingen, Bielefeld oder Wuppertal.
Alles mir unbekannte Orte, die mir aber, aus der Ferne betrachtet, authentischer, von echtem Leben erfüllt und dennoch ruhiger erscheinen als die aufgeblasene Hauptstadt, in der so Viele, gezogen von unsichtbaren Fäden, mit verschränkten Armen und verschlossenem Blick an wichtige Orte hetzen. Einsam.
Flach wie Aufkleber. Nebeneinander, übereinander. Eindimensionale, flüchtige Botschaften.
Sender ohne Empfänger. Sender, die nicht empfangen. Vielleicht nicht einmal senden.
Berlin bedrückt mich mal wieder. Berlin strengt mich an.
Diese unglücklichen und zugleich blasierten Menschen überall.
Sowenig Herzlichkeit. Soviel Angst und Resignation.
Soviel l´art pour l´art.

Vor wenigen Tagen noch: die Feuerwehr in Sömmersdorf mit ihrer blechernen, einstimmigen Kindersirene.
Irgendwo brennt es. Der Alarm erwischt uns im durstigen Augustwald, wo wir mit den Hunden durchs knackende Unterholz streifen. Borreliosegebiet.
Von Dorf zu Dorf wird er weitergereicht wie ein Staffelholz. Schwillt an und ab. Kreist uns von mehreren Seiten ein. Ob jemand bei der Hitze mit dem Moped über die verdorrte Flur der Fränkischen Trockenplatte geschürt ist?
Wir versuchen uns zu erinnern, was wir als Schulkinder gelernt haben, wenn wir uns bei den Alarmproben an
den Händen fassen, und in Zweier-Reihen das Klassenzimmer verlassen mussten.
Damals probten wir AB und C-Alarm. ABC-Schützen, die wir waren.
Was das alles bedeutete wussten wir natürlich nicht, freuten uns aber über die Unterbrechung des Unterrichtes, der in den, früher üblichen, Holzbaracken abgehalten wurde.
Während der Pausen rauchten unsere Lehrerinnen vor den Stufen der zweizimmrigen Behelfsbauten, und wärmten sich die Hände an der flimmernd-heissen Luft, die von, in die Wand eingelassenen, vergitterten Abluftventilatoren nach außen geblasen wurde
Ans Energiesparen, oder an Wärmedämmung dachte damals noch niemand. Rauchen war kein Makel, sondern eine zeitgemäße, schichtenübergreifende Gewohnheit.
Beim Internationalen Frühschoppen schien man nichts anderes zu tun.

Hier, umgeben von Wald und Feldern, muss ich an das Bett im Kornfeld von Jürgen Drews denken, dann an Nastassja Kinski, die sich in dem Tatort Reifezeugnis mit ihrem Lehrer zum tête à tête im Wald trifft. An ihre Rolle bei Cat People. Ihre stets leicht geöffneten, vollen Lippen. Die obere dezent lefzenartig die untere überlappend. Die dauerpräsente Eitelkeit, das Kokettieren mit unbedarfter Unschuld.
Hat sie nicht auch bei Hotel New Hampshire, Susie the Bear gespielt? Eine schüchterne, unattraktive Lesbe, die wegen ihres schwachen Selbstwertgefühls in einem Bärenkostüm auftritt. Nicht besonders glaubhaft. Aber immerhin konnte sie so mit Jodie Foster, der Hauptdarstellerin, ins Bett gehen (was man ihr allerdings noch weniger abnahm). Wo kommt die Erinnerung an diese Frau plötzlich her?

Ich entsinne mich nicht mehr, wie man sich bei Erklingen der Sirenen, nach dem Verlassen des Raumes zu verhalten hatte, noch, was die unterschiedlichen Töne oder Intervalle bedeuteten.
Bei Atomalarm sollten wir, so glaube ich zumindest, im Klassenzimmer bleiben, und uns unter den Tisch kauern. Ob das stimmt? Ich weiß es wirklich nicht mehr.
Ein bisschen Angst bekommen wir nun doch. Wenn wirklich etwas Schlimmes passiert ist!
Grafenrheinfeld, das Kernkraftwerk, ist nur wenige Kilometer entfernt.
Als wir aus dem Wald heraustreten, sehen wir es in der Ferne, hinter den abgeernteten Stoppelfeldern. Die Dampfwolken über den beiden Kühltürmen steigen in den tiefblauen, hochsommerlichen Himmel auf. Eine Fata Morgana.

SAMSUNG
Was, wenn wir vergessen haben den Herd auszumachen, und die Feuerwehr deswegen anrückt?  Ich weiß  nicht, ob mir das nicht eine akzeptable Alternative zu einem atomaren Störfall wäre.
Den Heimweg legen wir zügig zurück. Immer wieder blicke ich rüber nach Grafenrheinfeld.
Wir würden es nicht einmal bemerken, wenn der nuclear fallout uns bis aufs Mark durchleuchtete und die Basensequenz der DNA für immer veränderte.
Ich kontrolliere, ob mein Smartphone funktioniert, und ob noch alle Dateien vorhanden sind. Müssten sie nicht durch die Strahlung vernichtet werden? Wie schnell bewegt sich eine Atomwolke eigentlich? Hätte sie uns schon erreicht?
Bloß nicht hysterisch werden.
Es ist heiß und windstill. Wie damals bei Tschernobyl.
Unzählige Schwalben tummeln sich in der Luft.
Als wir wieder bei den Freunden ankommen, erwarten sie uns bereits.
Unweit des Hauses hat die Freiwillige Feuerwehr ein schwelendes Feld gelöscht. Später am Nachmittag wird sie noch einmal anrücken und nachbessern müssen. Wir schauen ihnen dabei zu. Mehr passiert hier nicht.

Be a Punk in Franconia

Im Garten sitzen wir, so wie früher, und essen alles, was er um diese Jahreszeit hergibt.
Brombeeren, Himbeeren, sogar noch ein paar Erdbeeren. Tomaten und Ringlos. Ringlotten. Renekloden. Edelpflaumen jedenfalls. Blasse Frühäpfel gibt es auch. Klaräpfel.
Eine Hängematte zwischen zwei Bäumen verführt zum Dösen.
Die Hunde trinken aus dem kleinen Teich.
Oleander, Hibiskus, Dahlien und ein paar Rosen blühen noch.  Vieles ist schon verblüht. Ich vermisse den Feigenbaum, der früher hier stand.
Vor dem gewaltigen, bemoosten Findling liegt meine erste Katze begraben. Castorp (ich las damals gerade den Zauberberg). Das kleine schwarze Getüm starb im Januar 2007 auf meinem Schoß. Gerade hatte der Tsunami Südostasien verwüstet.
Die Zeit eilt, alles geht vorbei. Aber hier habe ich das Gefühl noch einmal in den gleichen alten Bummelzug einsteigen und die vertrauten Stationen abfahren zu dürfen. Erinnerungsorte, die ich nur von hier, wo ich die Zeit auf geheimnisvolle Weise  zurückdrehen kann, erreiche.
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Wir haben uns im Studium kennengelernt, das wir zum größten Teil in Kneipen verbrachten. Im Sommer dann entweder in dem Häuschen am Würzburger Waldfriedhof, oder in Obbach. Das Haus der Eltern hüten. Damals gab es die Kinder noch nicht.
Der Sohn, mein Patenkind, wird im September 17. Er schaut regelmäßig Sportschau, legt Wert auf Fleisch in jeder Mahlzeit und macht gerade seinen Führerschein. Die 15-jährige Tochter ist Vegetarierin, trägt Hotpants und hat inzwischen ihren dritten Freund.
Wir verbringen diese Tage ohne die beiden.
Ausgelassen. Unbeschwert. So, als würde die lange Amazonasreise gleich beginnen, und wir wären diejenigen, die noch das große Abenteuer vor sich haben. Für diesen Augenblick fühlt es sich fast so an.
In Wahrheit rücken wir bei Beerdigungen als Nächste nach vorne in die erste Reihe, ehe wir selbst im lilien-geschmückten Sarg vor dem Altar liegen und von denen, die bald die Geschichte bestimmen, betrauert werden.

Sie sind schon hier, sie sind viele, sie sind ein Bild aus der Zukunft.
Hoffentlich nicht nur Aufkleber.

12 Kommentare zu “Aufkleber

      • Schon mal über Mannheim nachgedacht? Oll und multikulti, ein bißchen wie Berlin, das man zu heiß gewaschen hat und das daraufhin eingelaufen ist auf fünf Nummern kleiner. Sehr angenehm.

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        • Mannheim? Im Ernst? Da, wo Xavier herkommt?
          Muss ich mir vielleicht mal anschauen. Aber die Sprache ist schon hart, oder?
          Und der Odenwald nicht weit, gelle?
          (Und meine Mutter hat dort gelebt, früher einmal)

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  1. Beim Lesen musste ich an den Satz von Adorno denken: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Ein wunderschöner Artikel, den ich gut nachempfinden kann. Meiner Tochter fiel in Berlin übrigens die Unfreundlichkeit der Leute auf: ein einziges Rempeln, keine Entschuldigungen, kein Bitte, kein Danke. Und mir fällt gerade auf, dass ich hier mindestens in einem Bermudadreieck lebe: Ohu, Temelín, Grafenrheinfeld… – Die Kinski ist übrigens wirklich eine schüchterne, um nicht zu sagen völlig verstörte aber immer noch schöne Frau. Ich sah sie kürzlich in einem Interview.

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    • Adorno hat es auf den Punkt gebracht.
      Die Erfahrung deiner Tochter stufe ich als berlintypisch ein. Leider.
      Aber oft, wenn ich denke, dass ich es nicht mehr aushalte, scheint die Sonne vom einmalig schönen Berliner Himmel, und irgend etwas Nettes passiert.
      Schön war sie immer, die Kinski. Aber sympathisch war sie mir nie, obgleich ich den Kinski-Klaus noch schlimmer finde.
      Dass dir der Text gefällt freut mich wirklich.

      3 AKW im Umfeld? Tapfer! Mich gruselt es, wenn ich Kühltürme sehe.

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  2. Ich hab bei dem Film (das Buch habe ich sehr gemocht als Teenager) immer gedacht, die hätten die genau andersrum besetzen müssen.

    Am Schlimmsten fand ich, dass man selbst so abhärtet. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um mir diese Hornhaut abzuschubbern und kann mich den Damen hier nur anschließen: Sie würden sich wundern, wie einfach die Dinge sein können.

    Schön jedenfalls, dass Sie wieder da sind, Sie haben mir gefehlt.

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    • Das Buch mochte ich auch sehr. Habe es erst spät gelesen. Jodie Foster ist, für mich, die bei weitem Attraktivere von den beiden. Diese klugen Augen. Bin froh, dass sie nicht ins Bärenkostüm musste.

      Ich glaube ich ahne schon, wie einfach die Dinge sein könnten. Nur der Schritt dahin ist so schwer. Von irgendetwas muss man ja auch leben.
      Inzwischen überlege ich, ob ich meine Katzen alle weggebe (sie rauben mir ohnehin jede Nacht den Schlaf), und dann regelmäßig Wohnungstausch mache. 2 Monate jährlich Berlin verlassen, wäre doch ein Anfang.
      Werden Sie nie wieder zurückkehren in die große Stadt?

      Bin ganz gerührt, dass ich Ihnen gefehlt habe. Musste ich direkt ein bisschen schlucken.
      :-)

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      • Ja, den Schritt zu machen ist schwer. Können Sie.
        Katzen weggeben? Ja wie? Muss denn das?
        Und zwei Monate weg ist sehr gut.

        Ich: Nie mehr in die große Stadt. Nur in Urlaub …

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        • Katzen weggeben ist reiner Herzschmerz.
          An einem Ort leben zu müssen, der einen auf Dauer krank macht ist auch fies.
          Ich bin gerade ratlos.

          Nie mehr in die große Stadt.
          Vielleicht ist das wie mit anderen vergangenen Lieben. Auf die Ferne kann man sich schätzen und auch mal besuchen. Zuviel Nähe schadet.

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  3. „Ausgelassen. Unbeschwert. So, als würde die lange Amazonasreise gleich beginnen, und wir wären diejenigen, die noch das große Abenteuer vor sich haben. Für diesen Augenblick fühlt es sich fast so an.
    In Wahrheit rücken wir bei Beerdigungen als Nächste in die erste Reihe vor, ehe wir im lilien-geschmückten Sarg vor dem Altar liegen und von denen, die bald die Geschichte bestimmen, betrauert werden.“

    Ja, so ist es wohl, aber so schön hätte es nicht jeder schreiben können, wie überhaupt den ganzen Text.

    Als HHerin, die 1x jährlich ein Wochenende in Berlin verbringt und stets begeistert, ist kaum nachvollziehbar, dass man da nicht mehr leben möchte. In HH gehört Reserviertheit, Unnahbarkeit und Isolation offensichtlich und normalerweise zum guten Ton ;-) Vielleicht gefällt mir Berlin deshalb so gut, denn gegen uns sind die Berliner richtig offen :-D

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  4. Ein Wochenende in Berlin, oder auch 3,5 oder 10- wunderbar! Aber das ganze Jahr diese unfreundlichen Menschen, das geht auf´s Gemüt.
    Hamburg finde ich als Berlinerin immer wieder atemberaubend schön. Allein der Hafen! Und die Reserviertheit der Hanseaten ist nach soviel Berlin Balsam.
    Eine Mischung aus beidem, und dann noch ein bisschen süddeutsche Freundlichkeit und Frankfurter Offenheit- das wäre zu schön.
    Erstaunlicherweise tummeln sich ja hier genug Menschen von überall, und anstatt ihre jeweils guten Eigenschaten mitzubringen, streifen sie sie ganz schnell ab zugunsten der sprichwörtlichen Berliner Schnauze.

    Der Text liest sich wahrscheinlich sehr melancholisch, traurig, negativ.
    In Wahrheit ist er nur eine Momentaufnahme.
    Am Tag darauf hatte ich gleich ein sehr schönes Erlebnis in Kreuzberg und liebte meine Stadt aus vollem Herzen dafür.
    Ich freue mich, wenn er Ihnen gefällt!

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